Wenn das Rumfahren wieder erfolgreich ist…

Karin schreibt…

Wenn das Rumfahren wieder erfolgreich ist…

Heute unterstützt mich wieder Schnüffelmitglied Andreas – ich hole ihn von zuhause ab und wir fahren Richtung Lager. Wie immer achte ich automatisch auch auf die Umgebung – und als ich abbiege, sehe ich ihn: Den Herrn, für den ich vorgestern Schlafsack und Isomatte aus dem Lager geholt habe. Ich rufe: „Da ist X!“ Ich hatte Andreas von der Tour am Dienstag erzählt. Ich halte den Wagen an, Andreas steigt aus und läuft zurück. Ich parke, steige aus – und sehe Andreas rufend herumlaufen. Unser Bekannter ist wie vom Erdboden verschluckt. Andreas hatte mitbekommen, dass hinter uns ein PKW angehalten hatte und da die Wohnung unseres Bekannten in der Nähe liegt, wäre es eine Erklärung, dass Nachbarn ihn abgeholt haben. Wir fahren zum Lager, Kangoo packen und auf geht’s.

Zunächst treffen wir niemanden an, der Hilfe benötigt. Ruhig scheint es aber nicht zu sein, wie uns ein Polizist bestätigt, eher im Gegenteil. Ist vielleicht der Vollmond schuld? Möglich wäre es… 🤷🏻‍♀

Wir fahren weiter und wenig später sehen wir einen Herrn auf dem Bürgersteig in einer Nische hocken. Mehr als etwas zu trinken und Süßes möchte er nicht.

Weiter geht’s. Nach wenigen Kilometern sehen wir einen älteren Herrn an einem Kiosk stehen. Uns ist klar: Das ist jemand, der unsere Hilfe benötigt. Er erzählt unter Tränen, dass seine Frau vor nicht allzu langer Zeit gestorben ist, entschuldigt sich immer wieder. Wir können ihn überzeugen, etwas zu essen und zu trinken anzunehmen. Er trägt beide Eheringe – Andreas wundert sich, dass sie ihm noch geblieben sind. Auf der Weiterfahrt überlegen wir, ob der Tod seiner Frau ihn auf die Straße getrieben hat. Ein unendlich trauriger Gedanke…

Wir fahren zu einer Stelle, an der wir immer wieder Veränderungen gesehen, aber erst ein Mal jemanden fest schlafend angetroffen haben. Jetzt schläft dort wieder jemand tief und fest, reagiert nicht auf leise Ansprache. Dann wecken wir auch nicht, lassen stattdessen eine Tasche mit Kaltgetränken und Süßem sowie Flyer und Visitenkarte dort.

Als wir durch die Stadt fahren, sehen wir einen älteren Herrn zusammengesunken in einem Rollstuhl sitzen. Ich halte an, wir steigen aus und sprechen ihn an. Er wehrt mit einer Hand ab, wirklich verstehen können wir ihn nicht. Und helfen auch nicht. Und genau das ist jedes Mal und immer wieder das Traurige: Diese Hilflosigkeit, wenn Hilfe nicht angenommen wird von Menschen, denen es offensichtlich schlecht geht. Dieses Problem haben auch Rettungskräfte. Nur ein Arzt kann bei einem lebensbedrohlichen Notfall eine Einweisung in ein Krankenhaus gegen den Willen einer Person veranlassen.

Es nützt nichts – wir fahren weiter. Wir treffen eine uns gute Bekannte, die meistens eher überdreht fröhlich ist – jetzt ist sie eher schlecht gelaunt, hat auch äußerlich abgebaut. Das schmerzt auch jedes Mal: Zu sehen, wie es ihnen schlechter geht. Wir versorgen sie mit allem, was sie momentan braucht, geben ihr noch eine Tasche mit und dann muss sie weiter – sie hat noch eine Verabredung mit einem Bekannten. Wir wünschen ihr eine gute Nacht und dass sie auf sich aufpassen soll und fahren weiter.

Ich sage Andreas, dass es mich sehr belastet, wenn sie, die wir lange Zeit begleitet haben, abbauen oder sogar plötzlich verschwinden. Es gibt viele Möglichkeiten, warum das so ist – aber wir werden das Geschehene wohl nie erfahren. Aktuell gibt es einige, die ich lange nicht gesehen habe und um die ich mich sorge. Wie sagt Holger immer so treffend: „Das gehört dazu, da musste durch!“ – Ja, das ist wohl so…

Wir steuern unseren letzten Treffpunkt an, der erstaunlich leer ist. Andreas überlegt, ob eine Kontrolle stattgefunden hat, so leer war es hier noch nie. Ein guter Bekannter ist allerdings sehr erfreut uns zu sehen und als Andreas ihn nach seiner Wunschterrine fragt, antworte ich für ihn – er möchte immer die gleiche Sorte. Unser Bekannter grinst mich an: „Genau!“.

Etwas abseits liegt jemand. Ich gehe zu ihm, spreche ihn leise an und er reagiert sofort. Ich sage ihm, wer wir sind und ob wir ihm helfen können. Er nimmt dankend an, rappelt sich hoch, zieht Schlappen an und kommt zum Kangoo. Wir dürfen mit Nahrung und Getränken helfen, außerdem erhält er einen Rucksack, Isomatte, Hygienebeutel und – Schuhe! Er lebt seit 20 Jahren auf der Straße, hat unsere Flyer und alle weiteren, wichtigen Informationen und kennt die Anlaufstellen für Obdachlose in Hagen. Im weiteren Gespräch stellt sich heraus, dass er über eine Rückkehr in ein Leben mit Job und Wohnung nicht wirklich nachdenkt. Das ist uns klar: So einfach ist das nicht, nach so langer Zeit mal eben Job und Wohnung gegen die Obdachlosigkeit zu tauschen. Sie KÖNNEN nicht einfach so ihr Leben ändern. Juchhu, hier haste ‘ne Wohnung – und nun sei froh, ist nicht. Das braucht locker 2 Jahre und zunächst ständige Betreuung.

Ich bringe Andreas nach Hause und fahre zurück zum Lager. Die Fahrt, Abschlussarbeiten im Lager und die Fahrt nach Hause dauern locker noch mal eine Stunde. Aber ich mag diese Zeit. Runterkommen, das Erlebte reflektieren – und dann die Freude auf mein Zuhause.

P.S.: Flip wollte heute nicht mit – ich habe ihn an der Hauswand am Lager neben dem Kangoo gesehen, aber aufgesprungen auf den Kangoo ist er nicht. Auch ein Flip freut sich über sein Zuhause…
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