Holgers Meldetour – die Ehrlichen und die Verlogenen…

Holger schreibt…

Warum ist das so, dass die – die ehrlich und offen sind, immer auf die Fresse bekommen, und die, die verlogen und widerwärtig mit Menschen umgehen, immer davonkommen?

Diese Frage stellte mir heute eine junge Frau, der ich helfen durfte, die Nacht nicht auf der Straße verbringen zu müssen.
Es war einer dieser Abende, die schon von Anfang an ein eigenartiges Gefühl mit sich brachten. Bea und ich waren gerade von einem Vortrag in Lüdenscheid zurückgekehrt – ein Vortrag, über den ich in den nächsten Tagen noch schreiben werde. Kaum waren wir Bea und ich, bei ihr zu Hause angekommen, klopfte mein Bauchgefühl an. Es meldete sich laut und deutlich: Heute Nacht wird etwas sein.

Mein Bauchgefühl – für die einen ein Fluch, für die anderen ein Segen. Für mich ist es beides. Es hat eine fast unheimliche Trefferquote, besonders wenn es um Menschen geht. Die Unehrlichen, die Maskierten – bei denen schlägt es Alarm. Ich spüre sie schnell und halte mittlerweile Abstand. Es war nicht immer so, aber ich habe gelernt, mich selbst zu schützen. Und dann gibt es die anderen Momente, wenn mein Bauchgefühl mich einfach dazu bringt, ins Auto zu steigen und loszufahren. Ohne Plan, ohne Meldung. Genau an diesen Abenden darf ich dann zusätzlich helfen, noch mehr als sonst.

Dann traf ich zwei Menschen, bei denen mir die Hilfe nicht leicht fiel. Sie kamen auf mich zu, voll bepackt mit Plastiktüten, so viel Zeug, dass andere Menschen ihren halben Kleiderschrank dafür ausräumen müssten. Beide trugen dicke Daunenjacken, und von Frieren war keine Spur. Doch dann kam der Satz, der mich tief durchatmen ließ: „Hättest du noch eine Winterjacke für mich, dann muss ich nicht frieren.“

Zwei Terrinen Suppe und ein freundlicher Gruß, mehr bekamen sie nicht. Denn das ist genau das, was passiert, wenn Menschen tonnenweise Dinge auf die Straße bringen, ohne darüber nachzudenken, wie Hilfe tatsächlich aussieht. Vieles wird weggeschmissen, weil niemand Platz hat, um es aufzubewahren. Hilfe braucht nicht nur Herz, sondern auch Verstand. Und manchmal braucht sie ein klares Nein.

Und dann sah ich sie in dem Moment als ich an der Ampel stand. Sie saß da, zitternd, schaute immer wieder auf die Uhr, bevor sie an mein Fahrzeugfenster trat. Ich parkte den Wagen. Sie war wie ein nervöses Duracell-Häschen, sprach ohne Punkt und Komma, erzählte von ihrem Leben, von den Jahren, die die Drogen ihr gestohlen hatten. Und ich hörte zu. Nicht unterbrechen, nicht bewerten – einfach nur da sein.

Sie sprach von den Ungerechtigkeiten dieser Welt. Davon, wie die Ehrlichen untergehen, während die Verlogenen davonkommen. Ich sah in ihren Augen, dass sie nicht zum ersten Mal über diese Ungleichheit nachdachte, und ich sah auch, dass sie sich freute, endlich jemanden gefunden zu haben, der sie ernst nahm.

Bevor ich sie zu einem sicheren Ort bringen konnte, wo sie geschützt war, bat sie mich, eine Spende für unseren Verein machen zu dürfen. „Wenn ich Ende des Monats etwas übrig habe, dann gebe ich euch etwas zurück,“ sagte sie mit ehrlicher Dankbarkeit. Ich schüttelte den Kopf und sagte ihr, sie solle das bitte nicht tun.

„Weißt du, was du stattdessen tun kannst?“ fragte ich. „Kauf dir etwas Schönes. Etwas, das dir Freude macht. Und dann trag diese Freude weiter. Lächel andere an, die noch nicht so weit sind wie du, und lass sie etwas von deiner Kraft spüren.“

Ich bat sie auch, sich an die Drogenberatung zu wenden – ein Schritt, den sie scheute, weil man dann immer irgendwas machen „muss“. „Manchmal muss man Dinge tun, die man nicht mag,“ erklärte ich ihr. „Aber dieses nervige ‚Muss‘ bringt uns oft dorthin, wo wir hinwollen.“

Bevor wir uns verabschiedeten, versprach sie mir, es zu versuchen. Sie sollte mir schreiben, wenn es etwas zu berichten gab, und vielleicht würde ich bald eine Nachricht von ihr bekommen, in der mehr Stolz und mehr Freude steckt, als irgendeine Spende es jemals ausdrücken könnte.

Und warum es so ist, dass die Ehrlichen immer auf die Fresse bekommen und die Verlogenen davonkommen?

Ich hätte viele Antworten für sie, denn auch ich stelle mir hin und wieder diese Frage. Aber eine Antwort von ihr bekam ich nicht. Vielleicht wird sie mir eines Tages mehr über ihre Sicht auf die Welt erzählen. Oder vielleicht auch nicht. Was ich weiß, ist, dass wir uns oft fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Vielleicht liegt die Antwort darin, dass die Welt nicht fair ist – und dass wir dennoch unser Bestes tun müssen, um es ein wenig besser zu machen.

Am Ende bleibt nur die Hoffnung, dass sie den Weg weitergeht. Und ein leises Bauchgefühl, das mir sagt, dass sie es schaffen wird.
Hoffentlich
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EHRENAMT BEI UNSICHTBAR e. V.
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