Obdachlosigkeit, Medikamente und E-Rezept…
Karin schreibt…
Eine etwas andere Tour…
Als ich (Karin) Sabrina abhole, ahnen wir natürlich nicht, was uns heute erwartet. Der Kangoo ist gepackt und wir besprechen kurz, wohin es heute gehen soll. Für Sabrina ist es keine Überraschung, dass ich als erstes einen Besuch bei „Rudi“ vorschlage: „Na klar!“
Bei „Rudi“ ist alles wie immer – natürlich ist sein Unterschlupf desolat und ich weiß noch, wie entsetzt ich war, als ich den Ort zum ersten Mal gesehen habe. Mittlerweile habe ich mich natürlich daran gewöhnt – es zählt nur, wie es ihm geht.
Wir fahren weiter in die Stadt, parken an einer Stelle, an der wir öfter obdachlose Menschen getroffen haben und warten. Holger ruft an: Eine Meldung. Ein obdachloser Herr hatte eine kleine OP, ist jetzt wieder auf der Straße, ein weiterer Krankenhausaufenthalt ist nicht notwendig, eine Antibiose erfolgt Zuhause – wenn man eins hat. Oder aber eben auf der Straße… Er braucht etwas zu Essen und zu Trinken und natürlich das Antibiotikum – das Rezept liegt vor, aber er hat kein Geld. Ich schlage vor, eine Notdienst-Apotheke aufzusuchen und Sabrina googelt schon am Handy. Ich starte und Sabrina ruft den Herrn an: „In ca. 20 Minuten sind wir da.“
Er erzählt uns die Geschichte der Verletzung, dass aus der anfänglich nicht wirklich dramatischen ein Abszess geworden ist. Wundversorgung auf der Straße ist natürlich nicht optimal möglich! Er zeigt uns Fotos – ich schaue nur kurz hin, Sabrina ist beruflich bedingt härter im Nehmen! Er ist noch nicht lange auf der Straße, seine Geschichte ist, wie immer diese Geschichten sind: Voller Traurigkeit, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit. Er friert, Sabrina bereitet eine Terrine vor und ich erkläre ihm, warum Pulswärmer eine so wichtige Funktion haben. Er nickt: „Handstulpen!“ Genau. Wenn die Stelle am Handgelenk, an der man den Puls misst, gewärmt ist, macht sich das am ganzen Körper bemerkbar. Er zieht die Handstulpen aus Wolle an, guckt uns überrascht an: „Das wirkt schon!“ Sabrina bestätigt und zeigt ihm ihre.
Er hat ein E-Rezept erhalten, d.h., dass das Rezept in einer Cloud landet. Mithilfe der Gesundheitskarte wird das Rezept in der Apotheke ausgelesen, die Karte funktioniert wie eine Art Schlüssel. Wir dürfen seine Gesundheitskarte mitnehmen und fahren zur Notdienst-Apotheke. Dort erklären wir, wer wir sind, der Apotheker nimmt die Karte und geht zum PC. Es gibt Probleme, wir warten im Kangoo und sprechen darüber, wie viel Vertrauen uns entgegengebracht wird: Zunächst von dem obdachlosen Herrn und jetzt von dem Apotheker. Ein RICHTIG gutes Gefühl…
Das IT-Problem ist aktuell nicht lösbar, die Karte nicht auszulesen. Ob wir wissen, welches Antibiotikum benötigt wird – leider nicht. Er sucht uns die nächstgelegene Notdienst-Apotheke raus, Sabrina ruft dort an: Keine PC-Probleme. Also weiter in die nächste Stadt, Karte abgeben, warten. Auch hier absolutes Vertrauen des Apothekers. Die Software macht das nächtliche Backup – kein Problem, wir haben Zeit. „Es gibt Probleme, ich starte jetzt den Rechner neu.“ Oh oh… es wird doch nicht… Doch – auch hier das Softwareproblem.
Auf der Weiterfahrt sprechen wir über das gerade Erlebte. Das E-Rezept ist zweifelsfrei eine gute Sache, Digitalisierung auch. Aber solange es noch Kinderkrankheiten gibt, wäre es vielleicht eine gute Alternative, vorübergehend 2-gleisig zu fahren – besonders bei Rezepten für obdachlose Menschen, die nicht so flexibel sind, ggf. mehrere Apotheken anfahren zu müssen. Was ist bei Stromausfall, technischen Problemen etc., wenn es um lebenswichtige Medikamente geht, die so schnell wie möglich eingenommen werden müssen? – An dieser Stelle geht ein herzlicher Dank an die beiden Apotheker für ihr Vertrauen und ihren Einsatz!
Wir fahren zurück, Sabrina informiert den Herrn, dass wir bis zum nächsten Tag warten müssen. Für ihn ist es selbstverständlich, dass wir seine Gesundheitskarte behalten. Er ist dankbar für unsere Hilfe – und wir für sein Vertrauen!
Das nächste Ziel ist eine Stelle, an der wir vor kurzem auf den obdachlosen Herrn getroffen sind, mit dem wir uns dank Übersetzer-App verständigen konnten. Er ist noch da sowie ein zweiter, uns gut bekannter Herr. Ebenfalls polnisch-stämmig, aber mit guten Kenntnissen der deutschen Sprache. Offenbar haben die beiden sich – zumindest temporär – zusammengetan. Ich bin sehr froh darüber, vor allem nachts ist es wichtig, gibt beiden doch etwas mehr Sicherheit, als wenn sie sich einzeln wohin auch immer zurückziehen. Der Herr, den wir vor ein paar Tagen hier angetroffen haben, fragt nach einem Paar Schuhe. Nach Anprobe stellt er fest: Eine Nummer größer wäre besser. Das ist sehr wichtig, denn zu kleine Schuhe begünstigen Durchblutungsstörungen, die Füße werden schnell kalt. Außerdem passen in größere Schuhe dicke Wintersocken und warme Einlagen! Schuhe eine Nummer größer passen – wir freuen uns mit ihm. Es ist so ziemlich alles wichtig, was bei diesen Temperaturen warm hält, der Wind tut sein Übriges, um es noch kälter erscheinen zu lassen. Die Vorstellung, bei dieser Kälte draußen übernachten zu müssen, ist einfach furchtbar. Und es ist nicht nur eine Nacht, es sind Nächte. Und Tage. Wochen, Monate, Jahre. Ich schüttle die Gedanken ab, mitleidige Gesichter helfen hier nicht weiter!
Letzte Anlaufstelle – hier treffen wir nur einen einzigen unserer Bekannten, der froh ist, so spät noch versorgt zu werden.
Ich bringe Sabrina nach Hause, wir lassen die Tour Revue passieren, sprechen über Vertrauen, über fatale technische Probleme und über Träume. Anschließend fahre ich zum Lager, die üblichen Tätigkeiten, dann sitze ich in meinem Wagen, es ist 02:45, es ist kalt und ich freue mich auf mein Bett. Ich will gerade den Motor starten, da meldet sich mein Handy – um die Zeit kann es nur Holger sein. Er fragt, wo ich bin und ob ich noch mitkomme, er hat eine weitere Meldung erhalten. Ehrensache. UNSICHTBAR ist eine Angelegenheit des Herzens – das Bett kann warten.