Regen, Kälte, Meldungen…

Karin schreibt…

Eigentlich ist das uselige, neblige, feuchtkalte Wetter eher geeignet, es sich zuhause auf der Couch gemütlich zu machen. Aber wir wären nicht bei UNSICHTBAR e. V., wenn uns useliges Wetter oder Kälte von einer Straßentour abhalten könnte. Und so fahren Ute und ich (Karin) zum Lager, wo bereits Holger den Kangoo zum Packen vor das Tor gefahren hat.

Als erstes fahren wir zu einer Stelle, an der Holger kürzlich einen Herrn mit allem Notwendigen versorgt hat. Wir sehen einen Schlafsack und Tüten, sind aber unsicher, ob er dort liegt. Ich steige aus und kann eingemummelt in Schlafsack und Mütze ein Gesicht erkennen. Er ist sofort wach, Holger und Ute kommen hinzu und wir dürfen wieder mit Nahrung und Getränken helfen. Er ist liebenswürdig, höflich und möchte gerne mit seinem Spitznamen angesprochen werden – kein Problem! Holger kann ihn überzeugen, dass er seinen Schlafsack gegen einen neuen, bis Minusgrade warm hält, tauscht.

Auf der Weiterfahrt meldet sich Holgers Handy – der Anrufer bittet mit vor Kälte zitternder Stimme um Hilfe. Wir fahren sofort zum Treffpunkt und ich kriege wieder einen Eindruck, was bei weit niedrigeren Temperaturen, bei Minusgraden, auf uns zukommt… Zerfließen vor Mitleid ist der falsche Weg – dass es diesen Menschen nicht gut geht, wissen sie selber, auf die Bestätigung von uns können sie verzichten! Ohne Empathie geht es natürlich nicht (können wir auch gar nicht), aber wir versuchen immer, bei der Ausgabe eine positive Stimmung zu schaffen. Und DAS schaffen wir…

Auch dieses Mal dürfen wir mit allem helfen, woran es akut mangelt. Wir versprechen ihm, seinen Schlafplatz, der etwas außerhalb liegt, aber dafür sicher ist, wieder anzufahren und nach ihm zu schauen. Und wenn er in Not ist: Er hat Holgers Nummer.

Anfahrt von einigen Stellen: Wir treffen niemanden an. Also zum letzten Treffpunkt – der Nieselregen hat sich allmählich zu einem leichten Regen gesteigert. Einige unserer Bekannten sind noch wach und unterwegs und steuern den Kangoo an. Ein Herr, der sich mühsam mithilfe eines Rollators fortbewegt und uns unbekannt ist, geht mehrmals am Kangoo vorbei, ehe er sich vorsichtig nähert. Ich spreche ihn an – er sieht elend aus, ist völlig klar, nuschelt jedoch sehr, aber ich höre raus, dass er zu früh ausgestiegen ist und jetzt irgendwie die Nacht irgendwo verbringen muss. Er freut sich über alles, was wir ihm anbieten und wir bringen Terrinen, Getränke, Süßes etc. zu einem Tisch in der Nähe, an den er sich auf seinen Rollator setzt. Der leichte Regen ist gnadenlos und ich hole ein Regencape aus dem Kangoo. Jetzt wird es etwas schwierig – ich muss das Cape über ihn und seinen dicken Parker stülpen, was nicht wirklich einfach ist. Ich versichere ihm: „Bevor du erstickst, kriege ich deinen Kopf aus dem Cape!“ Er lacht laut und mit seiner Mithilfe kriege ich nicht nur den Kopf aus dem Cape, sondern auch die Arme in die Ärmel und jetzt ist er halbwegs geschützt. Er erzählt, dass er COPD Stadium 3 (schwere COPD) hat. Dass er, um seine Atemwege frei zu kriegen, sich was sucht, das ihn lachen lässt. Dann geht es besser. Und strahlt mich an, lässt einige wenige Zähne sehen… Jesses – ich bin wieder mal am Ende. Dass er heißt wie mein Opa macht es auch nicht besser. Was für eine Strategie: Zu lachen, um die Atemwege frei zu kriegen… in seiner Situation… Tränen zurückhalten wird allmählich zu meiner Paradedisziplin. Sein Anblick tut so weh… und dann strahlt er wieder glücklich: „Ich steige zu früh aus dem Zug, weiß nicht, wo ich bin, wo ich hin soll – und dann das… das ist wie Weihnachten!“ – Ich weiß, warum ich diesen „Job“ mache…

Es bleibt nicht die einzige bewegende Geschichte: Epilepsie, Sturz – und keiner hilft. Wenn jemand am Boden liegt, egal ob offensichtlich obdachlos oder auch nicht, bedeutet das nicht, dass er betrunken ist oder „sich abgeschossen“ hat. Vielleicht befindet er sich ja auch in Lebensgefahr.

Ein Stopp bei der Polizei – wir werden informiert, wo ein obdachloser Herr sich zurzeit aufhält. Alles klar – er wurde versorgt, war der erste auf unserer Tour.
Vielen Dank für diese großartige Zusammenarbeit.

Wir fahren noch kurz bei dem Herrn vorbei, dem wir zuerst helfen durften, und können einen weiteren Wunsch erfüllen: Batterien fürs Radio.
Auf dem Rückweg zum Lager ruft Holger den Herrn an, der sich zu Anfang der Tour erbärmlich frierend gemeldet hat: Seine Stimme klingt ganz anders, nicht mehr zitternd vor Kälte, er liegt im Schlafsack – ausgelegt auf Minusgrade – auf seiner Isomatte, an einer vor Wind und Regen geschützten Stelle. Ja, für euch und auch für uns ist diese Situation schwer vorstellbar – aber dieser Mensch befindet sich gerade in einer entschieden besseren Situation als noch vor Stunden.

Auf der Rückfahrt zum Lager meldet sich Holgers Bauchgefühl und er biegt plötzlich ab. Und tatsächlich entdecken wir einen uns gut bekannten Herrn in seinem Schlafsack auf der Isomatte liegend. Außer Nahrung geben wir ihm noch Thermounterwäsche und dicke Wintersocken. Ich bin sehr froh, dass wir ihn hier gefunden haben, er bekommt noch ein Paar Schuhe, letztes Mal hatten wir keine der Größe 46 an Bord! Ute und mir lag es sehr am Herzen, dass er sie bekommt – und heute hat es geklappt!

Ich bringe Ute nach Hause – es gibt wieder einiges zu reflektieren. Das letzte Stück fahre ich alleine… alleine mit den Gedanken an das heute Erlebte – aber auch mit Dankbarkeit dass wir helfen durften und mit Vorfreude auf mein Zuhause.

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