17 Jahre können eine sehr lange Zeit sein

Bevor ich Euch von unserer heutigen Tour berichte, die ich mit Frank gefahren bin, möchte ich an dieser Stelle klarstellen, dass wir die Geschichten, von den Menschen, die sie uns erzählen, nicht ohne vorher zu fragen, hier veröffentlichen.

Wir gehen sogar noch einen Schritt weiter, denn wir fragen nicht nur nach, wir lassen es uns schriftlich geben, dass wir das machen dürfen.

Es werden bei uns keine „richtigen“ Namen genannt und auch keine Stellen gezeigt, die auf diese Menschen hinweisen können, sei es jetzt örtlich oder eben auch um ihre Privatsphäre zu schützen.

Und ja wir gehen teilweise tief in ihr Leben hinein aber nur so, können wir und das eben mit ihrem Einverständniss dafür sorgen, dass irgendwann einmal, anders auf diese Menschen geschaut wird und sie nicht gleich verurteilt werden.

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17 Jahre können eine sehr lange Zeit sein – 17 Jahre, um etwas zu vergessen, dass man nie vergessen wird, auch wenn man es so sehr wünschen würde, vergessen wird man es niemals.

Oftmals wird von unserer Gesellschaft angenommen, dass die Menschen da draußen auf der Straße, Versager sind, Wesen, die nichts auf die Kette gebracht haben, Pack, das einfach nichts tun will, Penner, die nur saufen und koksen.

Das aber ist ein komplettes Fehldenken, denn wie unsere heutige Begegnung mit einem Menschen gezeigt hat, kann es auch ganz anders sein.

Er lebte mit seiner Familie, in einem ganz anderen Bundesland, ziemlich weit weg von hier und er hatte eine Familie – eine Familie, die er liebte und für die er sorgte.

Finanziell stand er recht gut da und konnte mit dem Gehalt, dass er nach Hause brachte, seine Frau und seine zwei Kinder nicht nur gut ernähren, sondern ihnen auch ein schönes Leben schenken.

Nach seiner Ausbildung machte er den Meister, nach dem Meister studierte er und wurde Ingenieur und die ganz großen Unternehmen liefen ihm die Tür ein, denn das was er konnte, konnte nicht jeder – hinzu kam sein Sprachtalent, das aus sieben verschiedenen Sprachen besteht.

Wenn man das aus diesem Blickwinkel sieht, alles eigentlich perfekt, doch auch eine perfekte Welt kann zusammenbrechen, wenn dann ein übermüdeter alkoholisierter Verkehrsteilnehmer, die Kontrolle über sein Fahrzeug verliert, in den Gegenverkehr rauscht und ein weiteres Fahrzeug rammt, in dem eine Frau und ihre zwei Kinder saßen.

Eine perfekte Welt, innerhalb von Sekunden zerstört – denn alle drei überlebten diesen Unfall nicht!

Da ist dann nichts mit Versager, Pack oder Penner – da ist ein Mensch, der sein Leben mit seiner Familie verbringen wollte und es nur Sekunden brauchte, ihn aus diesem Leben zu reißen.

Für ihn war in dem Moment niemand mehr da. Seine Familie, Mutter und Vater verstarben schon früh, Freunde und Bekannte, waren nicht viel da, weil seine Familie das Wichtigste auf der Welt war und eben sein Job und danach war nicht mehr viel Zeit über und wie die Menschen nun einmal so sind.

Haste keine Zeit für mich, distanziere mich eben von dir, so war es dann auch bei ihm.

Ohne nichts, ohne dass alles, ohne eine Zukunft, ohne einen Sinn weiterzumachen, verließ er Deutschland.

Kündigte seinen sehr guten Job und wollte nur noch weg, weg von alle dem, was ihn täglich an das erinnerte, was ihm in Sekunden genommen wurde.

Er pendelte durch die Welt, nahm hier und dort einen Job an – seine Qualifikationen öffneten ihm viele Türen und sein Sprachtalent förderte das Ganze auch noch zusätzlich.

In einem Land arbeitete er drei Jahre lang, doch auch hier sollte ihn das Glück verlassen, denn sein Arbeitgeber hatte ihn all die drei Jahre nicht angemeldet und da die Strafen dort für Schwarzarbeit ziemlich streng sind, musste er für 6 Monate ins Gefängnis, bevor er ausgewiesen wurde.

Die Zelle dort sagt er, war unvorstellbar.
Du musst für alles was du haben willst bezahlen und auch die Tage in denen du da eingesperrt bist, musst du auch bezahlen.

Ein bisschen wie Hotel, nur das auf deinem Zimmer bis zu zehn Menschen leben und wenn du nichts hast, bist du auch nichts – da erinnere ich mich immer und immer wieder dran, wenn ich mein Leben heute hier auf der Straße sehe.

Haste nichts – biste nichts.

Als er ausgeflogen wurde, was auch nicht umsonst war – stellte man ihn an einen größeren Flughafen einfach ab, irgendwie so als wäre er niemand und Geld durch die Strafe, die er zahlen musste, dem schlechten Hotelzimmer mit den Gittern vor dem Fenster und dem Rückflug hatte er dann auch nichts mehr in der Tasche, womit er nur im Ansatz einen Neuanfang wagen konnte.

Das war das erste Mal, dass die Obdachlosigkeit sein Leben wurde.

Irgendwann lernte er jemanden kennen, der ihn mitnahm, in eine Wohnung, ein warmer Ort, ein warmes Bett und hin und wieder mal was zu essen.

Doch die dortige Situation konnte er nicht ertragen, denn die Menschen, die dort lebten, waren Heroinabhängig und nachdem er miterleben musste, wie sich einer dieser Menschen, einen goldenen Schuss gesetzt hatte, verlies er die warme Behausung und nahm sich nochmal seine letzte Kraft zusammen, richtete sich ein Konto ein, stellte einen Antrag beim Amt und bezog nach langer Zeit wieder, eine eigene Wohnung.

Eine eigene Wohnung, die er heute noch hätte haben können, hätte das Amt die Miete überwiesen, doch auch nach mehrmaligen einreichen sämtlicher Dokumente, auch durch Einschalten eines Anwaltes, stellten sie die Mitarbeiter der Behörde quer.

Vielleicht sagt er – Hätte ich zu der Sachbearbeiterin nicht sagen dürfen:

Das was ich in meinem Leben gelernt habe und das was mein Leben mich gelehrt hat, um dort erst einmal hinzukommen, müssen sie – die Person die wohl noch gar nicht mal so lange aus der Schule raus ist, noch lange laufen, um in meine Schuhe zu passen.

Das könnte der Grund dafür sein, dass er dann plötzlich gar nichts mehr bekommen hatte und weil ihm all das zu bunt wurde, entschied er sich auf der Straße zu leben, wünscht sich aber mehr als alles andere, dass sich dieses Leben irgendwann einmal für ihn ändern wird.

Seine Familie kann man ihm nicht zurückgeben, die wurde mir genommen, sagt er aber mir jetzt auch noch den letzten Stolz zu nehmen, mir nicht zugestehen ein halbwegs gutes Leben zu führen, dass kann und will er nicht begreifen.

Liebe Gesellschaft – all die Menschen, die auf der Straße leben, leben dort nicht, weil sie es so schön finden, auf dem nackten Beton zu schlafen, auch leben sie dort nicht, weil die freie Sicht in den Sternenhimmel so grenzenlos ist und ja es gibt Menschen, die haben sich diesen Weg ausgesucht, weil sie es einfach so wollten aber viele von ihnen träumen von einem besseren Leben, als das was sie dort führen.

Ein Schlafsack für den Winter wünschte er sich und saubere Unterwäsche und die in einer Größe, die wir nicht oft brauchen und somit auch nicht im Fahrzeug hatten.

Aber wir würden nicht UNSICHTBAR e.V. heißen, wenn wir vieles nicht einfach mal möglich machen und so sind wir über die Autobahn ins Lager gefahren, haben ihm seinen Wunsch nach einem Winterschlafsack erfüllt, frische Unterwäsche und Thermounterwäsche, eine Powerbank für sein Handy und Socken geholt und sind dann wieder zurück und haben ihm all das gebracht.

Was Du heute kannst besorgen verschiebe nicht auf morgen.

Und genau das taten wir auch und als wir plötzlich wieder vor ihm standen, wusste er gar nicht wie ihm geschieht.

Geht nicht – gibt es nicht und jemanden in der Kälte liegen zu lassen und heute Nacht ins warme Bett zu gehen, kommt für uns nicht in die Tüte.

Ein bisschen durften wir helfen und es war heute auch die einzige Person, der wir helfen durften und das mit Dingen, die er brauchte und auch mit Gesprächen, die er gerne mit uns geführt hat.

Was in ihm vorgeht, wenn er an früher denkt, fragte ich ihn.

17 Jahre sind eine lange Zeit, da fängt man an zu vergessen, sagte er, aber irgendwie konnte ich, als er das sagte an seinen Augen erkennen, dass vergessen noch nie einfach gewesen ist.

Euch allen eine gute Nacht und vielleicht erzählt Ihr alle, vielen anderen Menschen von unseren Berichten, Erfahrungen, Gedanken und unserer täglichen Arbeit auf der Straße – nicht damit wir auf die Schulter geklopft werden, sondern um diese Gesellschaft noch ein bisschen mehr wachzurütteln und ihr zu zeigen, dass Sekunden ein ganzes Leben verändern können!