Diese Nächte…

Karin schreibt…

Es wird früher dunkel, aber es ist warm und die Menschen zieht es auf die Straße. Nein, ich meine jetzt nicht die Obdachlosen, sondern die, die ein Zuhause haben, die das warme Wetter genießen und die Fußgängerzone bevölkern. Die Spaß haben, an Events teilnehmen, offenbar sorglos ihre Freizeit genießen. Offenbar – aber genau wissen wir das natürlich nicht. Wie heißt es so schön? Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Aber diese Päckchen sind nichts im Vergleich zu denen, die obdachlose Menschen tagtäglich stemmen müssen. Stemmen, nicht tragen.

Als Andreas R. und ich heute unsere Nachttour starten und nach einigen Erkundungsrunden spätnachts durch die Stadt fahren, merken wir deutlich, dass es Samstag ist und warm und die Menschen einfach raus möchten. Ein kurzer Plausch mit einer Polizistin und ihrem Kollegen: Es ist tatsächlich ziemlich unruhig in dieser Nacht. Das sind die Abende und Nächte, in denen die Unsichtbaren lieber unsichtbar bleiben. Ich bin froh darüber, denn dann sind sie – eventuell – sicherer. Wenn ich an die Berichte denke, in denen Menschen – nicht nur Obdachlose! – überfallen werden, es Zeugen gibt und NIEMAND hilft, dann bin ich voller Wut und Trauer. Je nach Stimmung überwiegt das eine oder das andere. Aggressivität und Rücksichtslosigkeit nehmen zu – und besonders betroffen sind die Unsichtbaren, die leider nie so unsichtbar sind, dass sie nicht doch gefunden werden. Menschen, die ihren Frust über körperliche Aktivität loswerden müssen, sollen sich doch bitte einen Boxsack in die Wohnung hängen und auf den eintrommeln und -treten, das erleichtert auch und verletzt niemanden! Es gab in der letzten Zeit wieder vermehrt Berichte, dass Obdachlose zusammengetreten, angezündet, nach Angriffen gestorben sind. Oft habe ich diese Horrormeldungen im Hinterkopf, wenn ich auf Tour bin. Wenn ich sie sehe, wie sie zusammengerollt in Bushaltestellen oder Hauseingängen liegen oder so versteckt, dass wir sie nur selten finden… und wenn ich mir vorstelle, dass da jemand auftaucht, der sie einfach „mal eben“ zusammentritt, so lange tritt und prügelt, bis sie sich nicht mehr rühren, dass es manchmal sogar 3, 4 oder mehr sind, die ihren Frust oder was auch immer an ihnen, an einem einzelnen, hilflosen Menschen, auslassen… puh – diese Gedanken sind furchtbar und belasten enorm. Und ja – lösen eine enorme Wut aus. Dadurch, dass ich rausfahre, um ihnen zu helfen, zu so vielen mittlerweile eine Beziehung aufgebaut habe, mich freue, sie – den Umständen entsprechend – wohlauf zu sehen, ist das Entsetzen über die Angriffe noch mal potenziert.

Oft verschwinden einige, die wir lange Zeit unterstützt haben, spurlos. Auch das macht mir zu schaffen – sind sie nur weitergezogen? Geht es ihnen – halbwegs – gut? Oder ist ihnen Schlimmes widerfahren und sie leben nicht mehr? Ich werde es nie erfahren. Aber will ich überhaupt wissen, dass sie Opfer von Soziopathen geworden sind? Ich entscheide mich spontan für: NEIN! Lieber hoffe ich, dass sie irgendwo einen neuen Standort gefunden haben. Und vielleicht sehe ich sie ja irgendwo, irgendwann in einer anderen Stadt wieder…

Wir steuern unsere letzte Station an, mittlerweile ist es 2 Uhr. Es fängt an zu nieseln, zunächst ist niemand unserer Bekannten zu sehen. Andreas: „Wir bleiben sitzen. Es regnet.“ Jepp, bin einverstanden. Plötzlich sind sie da – kommen aus allen Himmelsrichtungen. Ok, raus und Heckklappe auf. M., der das letzte Mal nicht in der Lage war, zum Kangoo zu kommen, ist jetzt da. Sieht ein ganz kleines bisschen besser aus – immerhin! Ich bin froh, sage es ihm.

Und dann fängt es an zu schütten – muss das jetzt sein?? Gruppenkuscheln unter der geöffneten Heckklappe – nun ja… Wir verteilen fix Regencapes. „Das sieht ja aus wie ein Müllsack, diese grauen!“ – Ja ok, ich widerspreche nicht, sage, dass uns die Designerteile leider ausgegangen sind und bestätige S., eine junge obdachlose Frau, dass ihr das Cape total gut steht und sie super aussieht. Sie glaubt mir natürlich – und wir lachen… trotz Regen.

Um diese Uhrzeit ist nicht allzu viel los, so dass wir relativ schnell alle versorgt haben. Es geht zurück zum Lager, dieses Mal bin ich nicht alleine, da Andreas nicht aus Hagen kommt und selbst „angereist“ ist. Wir packen die Kühltaschen mit Obst und Schokolade in den Kühlschrank sowie das Obst, was ich vor der Tour noch gekauft habe und was nicht mehr in die Kühltasche passte, schicken die Statistikliste los, kurzes Resümee, dann fahren Andreas und ich los – jeweils in eine andere Richtung, aber eins haben wir gemeinsam – wir haben beide ein Heim.
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