Donnerstagfrüh, etwa ein Uhr
Donnerstagfrüh, etwa ein Uhr. „Willst du nicht den Bericht für heute schreiben?“ fragte Holger. Dankend und entschieden lehnte ich ab. Das kann ich gut, rigoros und konsequent Anfragen ablehnen. Die Rückbank, auf der ich während dieser Tour saß, war deutlich leerer geworden. War unser erster Halt am Abend in Ennepetal mehr ein „meet and greet“ als das Verteilen notwendiger Hilfe (der junge Mann versicherte uns, alles zu haben und weder etwas zu wollen noch zu brauchen, und er sei ohnehin mehr oder weniger auf dem Weg zurück nach Thüringen, aber wirklich, Leute, trotzdem vielen, vielen Dank und alles Gute für euch!), gab es in Wuppertal nichts, das nicht erwünscht war. „Das is‘ schon so’n Ding“, dachte ich, „wie sehr sich Menschen über eine heiße Suppe freuen können… und darüber, dass es nicht nur Nachschlag, sondern auch noch Schokolade gibt.“ Schon das Radio bei unserem ersten Halt in der Stadt war für den beschenkten Fernsehstar („Hey! Du hier und nicht in Olliwood???“) ein Highlight gewesen. Mal eben, kein Ding für uns, denn wir haben ja alles und alles dabei.
Nachdem wir in Wuppertal dann irgendwann die Klappe geschlossen hatten, ging’s mit Zwischenstopp im Lager ans andere Ende unseres „Reviers“: Hagen. So langsam setzte der Regen wieder ein, und dicke Tropfen patschten auf die Scheibe, als wir nach ein paar Runden durch malerische Gässchen und verträumte Fassadenschluchten (wobei… naja, es war ja dunkel) am Hauptbahnhof hielten. In einem der gläsernen Bushäuschen schlief jemand auf dem Boden, gut versteckt unter Decken und des Deutschen so wenig mächtig, dass Sina und ich das „Nein“ auf die Frage nach „Kaffee oder sonstwas?“ eher vermuten mussten als erkennen konnten. Holger brachte den Wagen in Position, und dann kamen sie, bekannte und unbekannte Gesichter. Alle wussten, was sie brauchen, manche wussten, was sie wollen… aber eine junge Frau, die wir nicht kannten, wusste nicht, ob sie überhaupt näherkommen sollte. Sie stand zögerlich da, sah abwartend zu und schien sich nicht wirklich heran zu trauen. Und weil ich den weltoffenen Rheinländer als Standardrolle im Repertoire habe, bin ich zu ihr gegangen. Doch, sagte sie, was Heißes zu essen, oh whow, das wäre super. Wirklich. Und Kaffee auch? Echt? Ihr Rucksack war eher klein, und über der Schulter hatte sie eine große, steife Einkaufstasche – so eine, aus der geschickte Langfinger schnell alles holen, was nicht darin festgeklebt ist. Holgers Profiblick sah dasselbe wie ich: Sie hatte weder Schlafsack noch Isomatte noch überhaupt Platz für sowas. Sie schlief, erzählte sie, am liebsten ein bisschen außerhalb der Stadt… wenn sie überhaupt schlief. Ich dachte:
„M-hmm. Wenn ich friere, weil alles klamm ist, und wenn ich Angst habe, dass da einer kommt, tja, wie soll ich da schlafen?“ Seit ein paar Monaten sei sie schon auf der Straße. Gut, andere machen das schon länger mit, aber manchmal zählen eben nicht „die anderen“, sondern der Mensch, der gerade vor dir steht: Der Nächste, von dem schon dieser Jesus immer geredet hat, ist wohl der, der gerade in dein Blickfeld getreten ist.
Die junge Frau hatte – in kurzen Worten – fast nichts, und wir hatten – in kurzen Worten – fast alles. Und damit waren wir in der unfasslichen Lage, sie komplett ausstatten zu können mit allem, was das Auto hergab, inklusive Rucksack, warmer Unterwäsche, TOM und wertvollen Tipps von Holger. Während wir beide also die Frau versorgten und ein bisschen zum Lachen brachten, hielt Sina die Stellung am Fahrzeugheck, leerte unsere Thermoskannen und gab mir das gute Gefühl, kein schlechtes Gewissen haben zu müssen, wenn ich jetzt gerade hier „meinen“ Schwerpunkt setzte. „Das ist echt wie Weihnachten“, sagte die Frau, ein bisschen aus der Fassung, „wirklich, genau wie Weihnachten.“ Tja… da waren wir wohl nicht ganz pünktlich. Sie wird ein bisschen Mühe gehabt haben, ihr Gepäck neu zu organisieren, könnte ich mir vorstellen – aber hey, irgendwas ist ja immer.
Donnerstag, 01:45 Uhr, ich liege im Bett. Hermann schnarcht neben mir. Was für ein Luxus, denke ich nochmal, was für ein Luxus und was für ein Segen, so viel zu haben, dass man mal eben so viel abgeben kann. Schlafsack, Suppe, Rucksack, Schokolade, Radio – was auch immer. Mal eben. Und ich fange an, die zu verstehen, die damit nicht mehr aufhören.