Herzliche Gedanken
Karin schreibt…
Ehrenamt bei UNSICHTBAR e. V. – das Herz gehört dazu.
Im Nachhinein ist mir aufgefallen, dass ich (Karin) in meinem letzten Bericht ziemlich oft „Herz“ erwähnt habe. Ich glaube, dass es – egal in welchem Ehrenamt – ohne mit dem Herzen dabei zu sein, gar nicht geht. Im Berufsleben ist das ja eher nicht immer der Fall. Ich hatte Glück, habe meinen Job (fast) immer geliebt. O-Ton einer früheren Chefin, als ich die Abteilung gewechselt habe: „Du bist mit so viel Herzblut dabei, ich sehe niemanden, der dir nachfolgt!“. Ich habe schon immer gerne mit Menschen zusammengearbeitet und so einige kennengelernt, deren Leben nicht gerade ein Ponyhof waren. Jeder Mensch hat irgendein „Päckchen“ zu tragen, das ist nun mal so. Aber dann gibt es halt die, die an ihren „Päckchen“ zerbrechen. Und das sind die, um die wir uns kümmern und in diesem Kümmern steckt nun mal ganz viel Herzblut.
Annette und ich sind heute wieder einem obdachlosen Herrn begegnet, der unsere Hilfe ablehnt, was mich immer wieder erstaunt. Es sind Menschen, die auch nicht reden wollen. Dann sind da immer die Gedanken, was sie so ablehnend gemacht hat. Ich würde gerne Zugang zu ihnen finden, ihnen zumindest durch Zuhören und Gespräche helfen – aber das würde Zeit brauchen, das ist mit ‚ich setze mich mal zu dir und höre zu‘ nicht getan. Da muss zunächst Vertrauen aufgebaut werden, bis so ein Mensch loslässt und sich anvertraut. Das übersteigt leider unsere Möglichkeiten, das würde Tage, Wochen brauchen…
Annette und ich fahren weiter. An unserer letzten Anlaufstelle sehen wir schon von weitem viele Bekannte, ich parke den Kangoo, Annette holt die Kühltaschen mit Obst und Schokolade raus, Heckklappe des Kangoos aufstellen – und dann stehen sie um uns herum, hungrig, durstig, redefreudig, mit Wünschen nach Hygieneartikeln, Rucksack, Schlafsack, Isomatte, Zelt und so weiter… Ich notiere die Reihenfolge (das hält das Chaos in Schach) und die Schubladen des Kangoos werden auf- und wieder zugeschoben, auf- und wieder zugeschoben, bis alle mit dem, was wir ihnen geben können, zufrieden sind.
Wichtig ist immer was Süßes – und Obst. Sie können sich aus der Kühltasche nehmen, was sie möchten. Niemand übertreibt, sie nehmen das, was sie gerade tragen können und wir müssen eher sagen, sie sollen doch noch mehr nehmen, als dass wir sie stoppen müssen. Ein Herr war vor Wochen jedes Mal sehr aggressiv, rüpelhaft, beschimpfte die anderen, die am Kangoo standen, die natürlich zurück schimpften. Seit der Ausgabeliste ist er völlig verwandelt. Er hat verstanden, dass wir uns, wenn er an der Reihe ist, wirklich nur um ihn kümmern. Er kann in Ruhe seine Wünsche äußern, er kann mit uns reden (leider wieder diese elendige Sprachbarriere), er hat Vertrauen gefasst. Er war immer sehr fordernd – jetzt holt er sich Obst aus der Kühltasche, guckt mich fragend an, ob das ok sei – ja klar, ich sage ihm, dass er sich noch mehr nehmen kann. Es ist so schön, diese Verwandlung miterleben zu dürfen! Früher dachte ich ‚Oh je, da isser wieder‘, jetzt freue ich mich, ihn zu sehen, begrüße ihn herzlich und frage, wie es ihm geht. Natürlich geht es ihm nicht wirklich gut. Aber soll ich jetzt vor Mitleid triefend vor ihm stehen? Sie wissen selber, dass ihr Leben Sch… ist, das muss ich nicht auch noch bestätigen. Das, was ihnen hilft, ist außer Anteilnahme auch, sie einfach wie gute Bekannte zu behandeln, die sich an einem Food Truck was zu essen holen. Bekannte, mit denen man Scherze macht und fröhlich ist.
Das klappt leider nicht immer. Ein uns gut bekannter junger Mann kommt erneut zum Kangoo mit der Frage, ob er für M. was zu essen und zu trinken mitnehmen könne, ‚der liegt da hinten‘. Puh – das ist es wieder… das Herz… und das tut weh, denn der Herr, der ‚da hinten liegt‘, war vor kurzer Zeit noch so hoffnungsvoll, war beim Jobcenter, war bei Luthers Waschsalon, wollte aus allem raus… Er ist auch einer meiner Herzenskandidaten und der seit Tagen andauernde erneute Absturz setzt mir echt zu. Ich kann sie nicht alle retten, nicht mal ansatzweise – diese Hilflosigkeit ist manchmal schwer zu ertragen.
Es gibt heute Abend noch eine nette, rührende Begegnung: Ein ebenfalls guter Bekannter, der jedes Mal durch seine Fröhlichkeit und optimistische Ausstrahlung auffällt, erzählt, dass er jetzt eine Arbeit hat und auf der Suche nach einer Wohnung ist. Und sobald er sie hat, ruft er uns an und unterstützt uns. Ja genau – das geht natürlich auch wieder ans Herz. Aber sowas von…
Ich bringe Annette zu ihrem Wagen am Treffpunkt und den Kangoo zum Lager. Wieder voller Gedanken an das Erlebte: traurige, gerührte, fröhliche – alles dabei.
Ein Kaninchen hoppelt über die Straße, eine schwarze Katze und ein Reh springen vor den Wagen… alles gut gegangen. Sie alle leben auch mehr oder weniger auf der Straße – aber das ist ihr natürliches Habitat. Für Menschen ist es das nicht.