Ich bin geschockt
Am Tag sind sie für viele unsichtbar und am Abend ruhen sie sich vom Tag aus und dann in der Nacht laufen viele von ihnen wie verlorene Seelen durch die Städte und wandern von einem Punkt zum anderen.
Unterwegs, dann wenn andere schlafen, dass schreiben wir nicht nur so, dass leben wir auch.
Heute Nacht, bis hinein in den frühen Morgen fuhren Olli und ich durch die Straßen und erlebten die Welt, derer – die dort draußen leben und das auf eine Art, die für ganz viele Menschen oftmals nicht sichtbar ist und hoffentlich auch niemals sichtbar sein wird, denn diese Welt, in der die Menschen leben, ist eine andere, als die – die wir kennen.
Sie sind in Gedanken, schauen durch die tiefe Nacht, ihre Köpfe oftmals gesenkt, schleichen sie durch die Straßen und halten sich so eben auf ihren Beinen, um nicht umzukippen, weil ihnen der Schlaf dicht auf den Fersen ist.
Nachts, wenn alle anderen schlafen, wandern sie umher, durchkämmen mit ihren Blicken Mülleimer, Reste, die sie hoffen zu finden, von dem was andere nicht mehr brauchten und weggeschmissen haben. Immer auf der Suche nach dem Licht am Ende des Tunnels, dass ihnen die Hoffnung schenkt, aus dieser ewigen Einbahnstraße – irgendwann vielleicht dann doch herauszufinden.
Auf der Suche, nach dem Sinn des Lebens, auf dem Weg die Dunkelheit als Freund zu bezeichnen, auf dem ewigen Pfad, ums Überleben zu kämpfen.
In dieser Nacht begegneten wir vielen von ihnen, vielen von denen, die dort heute Nacht unterwegs waren.
Die, die schon schliefen, ließen wir im Reich ihrer Träume und schauten dort kurz nach, ob sich ihr Körper bewegte, ob wir sehen konnten, dass sie atmen und machten uns dann weiter auf unserem Weg.
Es erscheint uns wie ein Film – man sieht diese leere Stadt, nur ganz wenige Menschen sind noch unterwegs, machen sich auf den Weg nach Hause oder sitzen auf Bänken und tippern auf ihren Handys rum, gelbe Lichter fliegen an uns vorbei und wenn man schnell genug schaut, erkennt man die Aufschrift „Taxi“ so gerade eben noch.
Und dann treffen wir auf eine junge Dame, ich bin geschockt, wie jung sie ist und als Olli gerade eben noch sagt, dass ist die Dame, die nicht spricht – Frage ich sie, ob wir ihr einen Kaffee oder eine Suppe geben dürfen.
Ihr Gesicht wendet sich in unsere Richtung es kommt ein „Ja, sehr gerne“ – das ist ungewöhnlich und ohne lange zu überlegen, gehen wir an den Kofferraum und bereiten ihr das zu, was sie gerne hätte. In dem Fall etwas Veganes und einen Kaffee und etwas Kühles zu trinken.
Wie alt sie ist, darüber möchte sie nicht sprechen und wie sie heißt, beantwortet sie nicht direkt, sondern sagt uns einen Namen, der ihr von denen gegeben wurde, die auch dort leben – auf der Straße. Sie hatte schon oft eine Wohnung aber na ja und dann wurde sie wieder leise, so als würde sie zurückkehren in ihre leise Welt.
Ein etwas seltsame Situation für uns und wäre das wirklich nur ein Film, wäre in dem Moment eine Musik erklungen, die uns alle Gänsehaut verschafft hätte.
Eigentlich wollte ich nur kurz was schreiben, mal einen kurzen Bericht schreiben über eine Tour, doch wie es scheint gelingt es mir nicht über etwas zu erzählen, dass so sehr viel Tiefe und Potential zum Nachdenken hat, wie diese Erlebnisse, die wir dort erleben, auf der Straße irgendwann zwischen Mitternacht und kurz vor Sonnenaufgang.
Auf der weiteren Fahrt entdecken wir eine Person, die wir schon ewig kennen aber noch nie stehend gesehen hatten – auch er wandelte durch die Nacht. Ich fahre rechts ran, rufe seinen Namen, er blickt auf uns fragt, ob wir denn wahnsinnig sind, um diese Uhrzeit noch unterwegs zu sein, dann ohne lange zu überlegen redet er gleich weiter und erzählt uns das er auf der Suche nach etwas Trinkbaren wäre und seit Stunden schon nichts mehr getrunken hätte, er nicht schlafen könnte und auf ein Wunder gehofft hätte.
Dann lächelte er und meinte, dass mit dem Wunder hätte sich ja dann erledigt und wir gaben ihm Wasser und Eistee, und zwar so viel, dass er diese Nacht nicht durstig verbringen musste.
Aber wir trafen auch noch viele andere Menschen, die heute Nacht durch die Gegend wanderten, die würde der Film dann zum Ende kommen, vielleicht zum Schluss so aussehen, dass all die, die kurz auftauchten in der Schlusssequenz dann wieder hinein in die Straßen, Gassen und Seiteneingänge verschwinden würden, so als wären sie kurz erschienen und dann wieder verblassen würden, in der mittlerweile langsam wieder hell werdenden Nacht.
Touren die uns verändern, Touren die uns begleiten, die wir mit nach Hause nehmen, über die wir nachdenken, die Kraft kosten und Momente, die sich auf unsere Herzen legen, dort verweilen, sich in uns hineinlegen und die wir verarbeiten, gemeinsam und im Team – über die wir reden, um dann wieder einmal festzustellen, dass dieses einzigartige Ehrenamt mit Herz und Verstand genauso wie wir es eben leben und fühlen ein Teil von uns ist, dass alles andere verblassen lässt, wenn wir dann wieder in die Nächte ziehen, um dort zu helfen, wo diese Menschen unsichtbar sind.