Karin on Tour…

Karin schreibt…

Prügelei, Rettungswagen, Polizei – und immer wieder ganz viel Traurigkeit… heute ist alles dabei.

Wenn man einige der obdachlosen Menschen länger nicht gesehen hat, wir sie wiederfinden und sehen, wie sie abbauen, tut das immer sehr weh. So erging es mir heute, als wir – Schnüffelmitglied Andreas und ich (Karin) – auf ein Paar treffen, das ich seit Wochen nicht gesehen habe. Bei ihm kann ich kaum eine Veränderung feststellen, er sieht immer sehr schlecht aus – aber sie… ich bin richtig erschrocken, ihr Anblick macht mich sehr traurig. An ihrem Verhalten hat sich allerdings nichts geändert, sie redet ununterbrochen – und dann muss ich doch lachen, als sie sagt: „Wenn ich ein Mann wäre, würde ich dich heiraten!“ – Ehrlich gesagt beruhigt es mich, dass sich nichts an ihrem Verhalten, an ihren Kabbeleien untereinander, die oft sehr ruppig sind, geändert hat. Den körperlichen Verfall ansehen zu müssen ist schwer zu ertragen, da tut es gut zu sehen, dass sie zumindest psychisch die „Alten“ geblieben sind. Oder zu sein scheinen.

In der Innenstadt von Hagen ist bereits so einiges für das Springefest am Wochenende aufgebaut. Wir fahren langsam Richtung Johanniskirche, ich registriere irritierte Blicke der Polizisten und Polizistinnen, die den Platz bewachen und die uns offensichtlich nicht kennen. Ich stoppe den Kangoo, erkläre, dass wir uns um Obdachlose kümmern und auf der Suche nach hilfsbedürftigen Menschen sind. Ihre Gesichter hellen sich auf: „Gerne!“ – und wir fahren weiter. Immer wieder stellen wir fest, dass das Netzwerk zur Polizei wunderbar funktioniert. Auf dem Rückweg frage ich sie, ob wir ihnen mit einem Kaffee helfen dürfen – aber sie sind versorgt.

Irgendwann fahren wir an unserem letzten Treffpunkt vorbei, um noch eine andere Anlaufstelle zu besichtigen. Im Vorbeifahren bemerkt Andreas eine liegende, zusammengerollte Person. Ich fahre eine Runde, bis wir sie wieder erreichen, fahre rechts ran und parke den Kangoo. Wir steigen aus, ich frage vorsichtig, ob er Hilfe braucht. Er wacht auf, braucht einen Moment, um sich zu orientieren, winkt ab, er habe nur zu viel getrunken. Ich kenne das, wir akzeptieren natürlich, wenn sie ihre Ruhe haben möchten. Aber manchmal sollte man doch mal nachhaken – und wann das der Fall ist, das habe ich mittlerweile gelernt. Ich sehe es oft an ihrer Reaktion, an den Augen, an ihrer Unsicherheit. Hier ist Nachhaken angesagt. Er wird offensichtlich wacher, registriert, dass wir von UNSICHTBAR sind, und sein Gesicht hellt sich auf: „Ach – UNSICHTBAR! Ja, ich kenne euch, ich kenne Holger! Ist er noch da?“ Ich versichere ihm, dass Holger noch da ist – und auch mit Sicherheit bleiben wird. „Viele Grüße an Holger!“ – Das richte ich doch sehr gerne aus. Wir dürfen ihm mit einem Kaffee helfen, mehr will er nicht. Und dann passiert etwas, was ich noch nie erlebt habe. Da hockt dieser kleine, klapperdürre Mann auf dem Bürgersteig, in seiner schmutzigen, zerrissenen Kleidung, um sich herum jede Menge Menschen, die ihn zum Glück ignorieren – und dieser Mann holt sein Portemonnaie raus, zieht einen 10-Euro-Schein hervor und will diesen Schein uns spenden.

UNS.

SPENDEN.

Das zerreißt mir das Herz. Manchmal weiß man einfach nicht wohin mit seinen Emotionen – das ist jetzt gerade wieder der Fall. Dieser kleine, nur aus Haut und Knochen bestehende Mann, der trotz seines Alkoholpegels so klar ist, haut mich einfach um.

Ok – aufkommende Tränen muss ich unterdrücken – wenige Meter weiter liegt ein Mann auf dem Boden, offenbar völlig betrunken, aber auch vermutlich schwer gestürzt und eventuell mit Verletzungen. Natürlich kümmern wir uns auch hier, Andreas informiert die Polizei, eine zufällig vorbeikommende junge Krankenschwester hilft dem Mann auf, kurzer Check – ihrer Meinung nach ist er „nur“ schwer alkoholisiert. Sie stammt aus Polen – wie auch der gestürzte Herr – kann ihm Informationen entlocken und an Polizei und Rettungskräfte weitergeben, als sie eintreffen – Andreas und ich sind raus.

Mittlerweile sind weitere obdachlose Menschen bei dem kleinen Herrn eingetroffen, wir versichern, dass wir später noch mal wiederkommen, zunächst noch einen anderen Treffpunkt ansteuern.

Als wir unseren letzten Treffpunkt erreichen, taumelt der gestürzte Herr, der sich mittlerweile als einer unserer Bekannten herausgestellt hat, auf uns zu. Er ist unverletzt, seinem „Gegner“ wurde Platzverweis erteilt. Er möchte nur etwas zu trinken, setzt sich auf eine Bank – und provoziert den anderen durch lautes Beschimpfen. Einer unserer Bekannten ruft ihn zur Ordnung – er ist einer von denen, die anderen helfen, die sich nicht an den Kangoo trauen, denen ihr Zustand peinlich ist oder denen es so schlecht geht, dass sie den Weg zu uns nicht schaffen. Er ist einer von denen, die zurück wollen. Er ist einer von denen, die mir besonders am Herzen liegen. Er ist einer von denen, die große Traurigkeit auslösen. Aber er ist auch einer von denen, bei dem ich die Hoffnung nicht aufgebe.

Der gestürzte Herr zettelt weiter entfernt eine weitere Konfrontation an – aber darum muss sich die Polizei kümmern, es ist nicht unsere Aufgabe. Offenbar hat sich der Streit zumindest vorläufig erledigt.

Ein weiterer Bekannter kommt zu uns – so habe ich ihn noch nie gesehen. Er wiederholt ununterbrochen, dass er so traurig sei. Dass er nicht weiß, warum das so ist. Er ist einfach traurig. Er schwankt von einem Bein auf das andere, hat Tränen in den Augen – und immer wieder dieses „Ich bin so traurig, Ich weiß nicht, warum. Ich bin so traurig.“ Jesses… ich kenne ihn, wir dürfen ihm immer helfen mit dem, was er aktuell benötigt – aber dieser Zustand ist für mich neu. Ich versuche rauszukriegen, was los ist – aber er wiederholt nur, dass er so traurig ist. Furchtbar. Er reagiert kaum auf das, was ich sage. Ich erreiche ihn einfach nicht. Diese Hilflosigkeit ist sehr schlimm für mich. Ich möchte einfach, dass diese Menschen, die ich auf unseren Touren treffe, zumindest für diese eine Nacht mit einem guten Gefühl dahin gehen, wo auch immer sie gerade unterkommen. Ja – das ist sicherlich vermessen, dazu gehört mit Sicherheit noch viel mehr. Aber ich wünsche es mir so sehr…

Auch heute sind Menschen am Kangoo, denen wir schon fast aufdrängen müssen, etwas anzunehmen. Auch dafür entwickelt man im Laufe der Zeit ein Gefühl – nicht immer heißt „nein“ auch wirklich nein. Sie trauen sich nicht, mehr anzunehmen. Und wieder das Gefühl der Traurigkeit… Aber man lernt. Je öfter ich diese Menschen erlebe, desto besser kann ich sie einschätzen.

Was mir wichtig ist: Wir duzen sie, stellen uns mit unseren Vornamen vor. Sie siezen uns. Ich sage ihnen dann, dass wir uns alle – auch sie uns – duzen, dass wir auf einer Stufe stehen. Genau das sollen sie wissen.
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