Karins Gedanken…

Karin schreibt…

Holger hat in seinem sehr persönlichen Bericht vom 24.07.2024 geschrieben, dass man ihm nahe gelegt hat, weniger von sich zu schreiben, das gehöre nicht in die Straßenberichte. Ich (Karin) bin sehr froh, dass so viele von euch ihn bestätigt haben, eine Leserin schrieb, wem es nicht gefalle, der möge doch bitte weiterscrollen. Danke dafür – genauso sehen wir von UNSICHTBAR e. V. das auch!

Natürlich können wir schreiben:
– Wir waren in XY und in Z
– Wir haben n Obdachlose getroffen
– Wir haben soundso viele Terrinen, Eistees, Wasser, Socken ausgegeben
– Und alle haben sich gefreut
– Und wir haben uns auch gefreut

– Fertig.

Das wäre dann sowas wie ein Servicebericht eines Handwerkers. Na gut – das mit dem Freuen steht natürlich nicht darin…

Wir alle bei UNSICHTBAR e. V. arbeiten nun mal nicht für Geld, sondern wir verbringen einen Teil unserer Freizeit im Verein, weil unser Ehrenamt uns am Herzen liegt – und das hat nun mal mit Emotionen zu tun. Einige gehen offener mit ihren Emotionen um, andere halten sich eher zurück. Kalt lässt das, was wir tun und was wir erleben, niemanden von uns!

Ich würde sehr gerne die Lebensgeschichten vieler obdachloser Menschen veröffentlichen, um andere für die Schicksale zu sensibilisieren, die wir erfahren – aber der Schutz der Obdachlosen und ihrer Privatsphäre hat Priorität.

Als ich einen Schlüssel vom Lager bekam, das 1. Mal als Fahrerin eingeteilt wurde und zum Lager fuhr, war ich richtig stolz: Aufschließen, den Kangoo zum Rolltor fahren, mit dem Packen anfangen, bis Sina, die mit mir gefahren ist, eintraf. Seitdem ist es jedes Mal fast wie Nachhausekommen, da mittlerweile alles so vertraut ist und weil es einfach ein gutes Gefühl ist, denn das, was dann folgt, ist etwas Wichtiges, einfach eine Herzensangelegenheit.

Das Herz ist immer dabei, besonders, wenn man einen uns gut bekannten obdachlosen Herrn, der vor kurzem noch optimistisch und stolz war, dass er beim Jobcenter „alles“ erledigt hat, jetzt volltrunken, mit verquollenen Augen und völlig verzweifelt sieht. Dann blutet das Herz. Leider haben Susanne S. und ich keine Zeit, länger mit ihm zu reden, da so viele obdachlose Menschen den Kangoo umringen. Und er ist nicht der einzige, dem wir gerne länger zuhören würden. Wenn wir jetzt noch jemanden mehr an Bord hätten, wäre das möglich…
Ich kann euch versichern, dass dieses Ehrenamt einem zwar einiges abverlangt, aber auch sehr viel zurück gibt. „Einiges“ abverlangt? Eigentlich nicht – einfach nur Empathie und den Wunsch, Menschen am Rande der Gesellschaft durch die Nacht zu helfen.

Zurück bekommt man… ja, verbal geäußerte Dankbarkeit, keine Frage. Aber das, was wir in ihren Augen lesen, ihr schamhaftes Lächeln, erstaunte Gesichter („das bekommen wir einfach so?“), das ist das, was ans Herz geht.

Wir werden immer wieder gefragt, ob wir keine Angst haben. Nein – haben wir nicht. Gerade an Treffpunkten, an denen wir viele Bekannte antreffen, haben wir sowas wie eine Beschützer-Gang. Taucht ein neuer obdachloser Mensch auf, der aggressiv, laut wird und leicht bedrohlich wirkt, dann schreiten sofort alle anderen ein. Das ist heute Nacht wieder der Fall – Susanne und ich können beruhigt weiter Ausgabe machen und zumindest kurze Gespräche führen – wir werden beschützt. Wenn sich Neue einfach vordrängeln, werden sie von der Gang belehrt: Sie sind noch nicht dran.

Und gerade diese Vertrautheit ist fatal: Weil man nämlich zu viel Gefühl aufbaut. Ich tue das jedenfalls. Was ist, wenn sie plötzlich verschwinden, wir nie erfahren, was auch ihnen geworden ist? Das ist etwas, an was ich mich gewöhnen muss. Oder auch nicht – das werde ich nämlich nicht. Ich kann es nicht ändern, ich muss es aber hinnehmen.

Heute Nacht scheint es kein Ende zu geben, immer mehr kommen zum Kangoo. Viele neue Menschen – die Statistiken stimmen offenbar: Es gibt immer mehr obdachlose Menschen.

Eine junge Frau erzählt, dass ihr Mann „da hinten“ sei, dass er großen Durst und Hunger hat und sie gerne etwas zu essen und zu trinken hätte – auch für ihn. Susanne fragt nach den Namen, sie nennt ihren und sagt, dass sie seinen Namen nicht weiß und blättert in einem Notizblock: „Moment!“ Ich frage nach – sie kennt den Namen ihres Mannes nicht? – „Ich kenne ihn doch erst seit 3 Tagen!“ – Na daaaann… Zuerst klingt es lustig, später denke ich darüber nach… Als obdachlose Frau hat sie einen noch viel schlechteren Stand als obdachlose Männer. Sie hat jemanden gefunden, mit dem sie eine Weile einen gemeinsamen Weg geht… er ist ihr Mann, ihr Beschützer. Nach anfänglichem Belächeln bleiben Rührung und der Wunsch, dass diese Gemeinschaft möglichst lange Bestand hat… ich wünsche es ihr von Herzen.

Ein junger Mann hält mir eine riesige Taschenlampe, eher schon einen Handscheinwerfer, hin, guckt sich suchend um: „Das kann bestimmt einer eurer Männer, brauche Batterie.“ DAS ist ja mal mein Thema! Ich lächle ihn freundlich an: „Das können auch wir Frauen.“ – „Ja, aber Batterie ist alle. Kann bestimmt Mann.“ – Ja, kann bestimmt auch Frau. Ich nehme ihm die Taschenlampe ab, schaue sie mir an. „Ich weiß nicht…“ – Aber ich. Ich schraube den Halterungsring mit dem Glas ab, nehme das Leuchtmittel raus und darunter befindet sich eine Halterung mit 4 großen Batterien. „Tut mir leid, die haben wir nicht.“ – „Aber bestellen!“. Nein – wir sind kein Geschäft und auch kein bekannter Versandhandel, der am nächsten Tag liefert. Ich erkläre ihm, dass er die Batterien besorgen soll und wenn er mit dem Auswechseln nicht zurechtkommt, wir gerne helfen. Auch wir Frauen… 😜

Irgendwann kehrt Ruhe ein, sämtliche Terrinen und Puddings sind ausgegeben, nur wenige Flaschen Wasser und Eistee sind übrig. In der Kühlbox für Schokolade und Knoppers herrscht Leere, die Kühltasche für Obst ist auch fast leer. Ich freue mich jedes Mal sehr, wenn das Obst so großen Zuspruch findet – wenigstens ab und zu mal was richtig Gesundes. Für meine Tour am Sonntag muss ich unbedingt vorher noch unbedingt Obst kaufen!

Ich bringe Susanne nach einem kurzen Gespräch mit 2 Polizisten nach Hause und – mal wieder – den Kangoo an seinen Platz am Lager. An einer roten Ampel fällt mir ein weggeworfener Pappbecher auf – einer wie die, in denen wir Kaffee und Tee ausgeben…

Es sind so viele Kleinigkeiten, die mich in meinem Alltagsleben an sie erinnern… an sie, um die ich mich kümmern darf, die mir am Herzen liegen – und die irgendwann einfach weg sein werden…

Ich kann euch versichern: Wenn ihr zu uns kommt, werdet ihr verstehen, für was wir euch in unseren Berichten sensibilisieren möchten, was wir euch nahe bringen wollen.

Zu UNSICHTBAR e. V. zu gehören ist eine Win-Win-Situation…
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EHRENAMT BEI UNSICHTBAR e. V.
Das Ehrenamt bei UNSICHTBAR e. V. besteht nicht ausschließlich aus der Arbeit auf der Straße. Bring dich zum Beispiel in der Fahrzeugpflege mit ein, sortiere, packe und waschen und reinige regelmäßig unsere Fahrzeuge, denn auch das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe.
Werde Teil von etwas Großem – werde ein Teil von UNSICHTBAR e. V.“