Spina bifida
Spina bifida
Heute stand mal eine komplett andere Tour auf dem Programm.
Vor ein paar Tagen wurde ich von einem obdachlosen Herrn aus Bochum angeschrieben, der – sowie er mir schrieb uns gerne mal kennenlernen wollte.
Sowas ist selten, weil entweder werden wir angerufen, weil jemand etwas braucht oder werden darüber informiert, wo wir jemanden finden, der Hilfe braucht.
Hier war es ganz anders
Moin, schrieb er bei unserem ersten Kontakt, mit folgender Nachricht.
Stefan hier (Name geändert)
Ich lebe zurzeit draußen
In Bochum
Und wollte mal wissen
Wann und wo man euch mal treffen kann in Bochum
Da wir nicht immer wissen, wann wir wo sind, bat ich ihn darum, meinen Rückruf abzuwarten, der dann auch gleichzeitig dazu dienen sollte, ihm mitzuteilen, wann wir vor Ort sind.
Heute dann machten wir uns auf den Weg – gestern waren wir auch schon dort, aber da hatte ich glatt vergessen ihm bescheid zu geben und es war auch schon ein bisschen spät.
Am frühen Abend holte ich
Jens
ab, es war vielleicht gar nicht mal so schlecht, bei Licht dort hinzufahren – dachte ich mir und dann kam es aber letztendlich doch ganz anders als wir dachten.
Wir sind eben doch die Nachteulen vom Dienst
Erst ging es zum Lager, dass Auto befüllen und danach machten wir uns auf den Weg nach Bochum aber weit und breit keine Spur von ihm, auf einen Anruf reagierte er nicht – also was tun?
Kurz noch zu der ein oder anderen uns bekannte Stelle, an der wir ein paar Masken verteilen durften und dann nach einem längeren Telefonat, dass mich erreichte, ging es in Richtung Witten.
Gerade in Witten angekommen und auch gerade das Gespräch beendet, ging das Telefon erneut und uns wurde ein Standort zugeschickt, dass der Herr, den wir vorher und auch gestern nicht angetroffen hatten, nun da sei.
Was wir versprechen, halten wir. Das war schon immer so und das wird auch immer so bleiben – komme da was wolle.
Also wieder ab nach Bochum – die Nacht hatte sich schon Teile des Tageslichtes verinnerlicht, als wir dann dort ankamen und einen super freundlichen Herrn im Rollstuhl antrafen.
Hey, dass ist ja prima euch hier zu sehen, ich freue mich euch kennenzulernen.
Er hatte unseren Kontakt, von einer obdachlosen Dame, die wir ebenfalls kennen und die sagte zu ihm – ruf mal den Verein an, die nehmen sich Zeit und sie können zuhören.
Japp – das können wir und das konnten wir heute Abend knapp zwei Stunden! Einfach da sitzen, auf einer Isomatte, auf dem kalten Steinen und ihm zuhören.
Er hat Spina bifida erfuhren wir, als ich ihn fragte – wie es dazu kam, dass er im Rollstuhl sitzt.
[Eine Spina bifida ist eine Spaltung der Wirbelsäule. Es handelt sich um eine Neuralrohrfehlbildung, die unterschiedliche Ausprägungen haben kann und sich entsprechend unterschiedlich schwer auswirkt.]
Er kam als Baby mit einem offenen Rücken zur Welt und lebt seid dem mit dieser Krankheit.
Heute ist er 39 Jahre alt und hat sich leider mit seiner Familie zerstritten, die ihm auch nicht helfen will und als er vor etwas einem Jahr seine Wohnung verloren hatte, kam es dann eben zur Obdachlosigkeit.
Er hat es aber auch ein bisschen selbst vermasselt, sagt er.
Die vielen Partys, die er in seiner Wohnung gefeiert hatte und die ständig laute Musik, machte den Nachbarn zu schaffen die sich dann bei seinem Vermieter beschwert hatten.
Dieser schrieb ihm viele Briefe und wenn er sich das so durch den Kopf gehen lässt, sind sie wahrscheinlich bis heute nicht geöffnet – er hatte eben einfach keine Lust reinzuschauen.
Unter diesen vielen Briefen muss dann wohl auch der Brief mit der Räumungsklage gelegen haben und als Tag X dann anrückte, war er plötzlich obdachlos.
Eine Zeit lang schlief er in der Stadt, aus der er ursprünglich kommt, in einem Heim, die auch Zimmer für behinderte Menschen hatten, doch als in dem Haus dann der Aufzug ausfiel, konnten sie ihn nicht mehr beherbergen und verwiesen ihn an eine andere Stelle – dort jedoch schliefen vier Leute auf einem Zimmer und einen Gummibezug für das Bett, konnte man ihm auch nicht zur Verfügung stellen.
Durch die mit der Krankheit verbundene Harninkontinenz und Stuhlinkontinenz ist so ein Gummiüberzug einfach wichtig, weil sonst die Matratze ständig komplett gereinigt werden müsste und sich ohne einfach nicht wohl gefühlt hätte. – Verständlich –
Also machte er sich auf den Weg.
Zusammen mit einem Freund, den er auf der Straße kennengelernt hatte, fing er an zu zelten – mal hier und mal da – bis es ihn schließlich nach Bochum verschlagen hatte.
Kreativ musst du sein, dann klappt alles, sagte er.
In einer Toilette für behinderte Menschen schläft er in der Nacht – der Raum schützt vor dem Wind und eine Steckdose gibt es da auch.
Er erzählte so sehr viel, dass man manchmal gar nicht mit seinen Gedanken nach kam – ununterbrochen und als wir ihm ein bisschen über uns erzählten und dass wir unter anderem auch gute Zuhörer sind, hatte ich das Gefühl er würde mal kurz tief durchatmen und dann ohne Punkt und Komma weitererzählen.
Wir lachten zusammen, sprachen aber auch ernste Themen an.
Wie zum Beispiel das Problem seines Rollstuhls, bei dem die Räder vorne komplett abgenutzt sind und er sich kein Rat wüsste, an Neue zu kommen.
Das Übernehmen jetzt wir und Jens wird sie ihm montieren.
Und dann wäre da noch die Frage der Windeln, die er tragen muss und für die wir auch fürs erste Sorgen werden.
Immer positiv denken, sagt er – selbst wenn die Lage noch so ernst ist, man darf niemals aufgeben.
Das ist seine Lebensweisheit und wir finden sie toll, genauso wie wir den Menschen Stefan toll finden, der in seiner Lebenslage, mit allem was dazu hört, noch immer nicht das Lachen verloren hat, der trotz alle dem nicht aufgibt und nach vorne schaut, jemand der nicht um den heißen Brei herum redet, sondern sagt, wenn er was möchte – wie auch den Becher Kaffee, die Thermoskanne Kaffee und die Suppe, die er bekommen hat – einfach frei aus der Seele heraus reden oder fragen oder einfach den Schnabel aufmachen, wenn was ist – das ist wichtig für ihn und sollte in der Regel auch wichtig für jeden anderen Menschen sein.
Das ist seine Art zu leben und von dieser Art sollten sich viele Menschen einmal ein Stück abschneiden.
Wir werden wieder zu ihm fahren und wir werden ihn auf seinem Weg begleiten und wenn er etwas braucht, werden wir es ihm bringen, um genau das zu tun – was unserer Vereinsphilosophie aussagt – Helfen – da – wo Hilfe gebraucht wird und das ohne Wenn und Aber.
Und nun wünsche ich euch eine gute Nacht – danke Jens das du dabei warst und danke an jeden Menschen, der an UNSICHTBAR e.V. glaubt und mit seinem Herzen dabei ist, und das tut was wir eben tun.
Nicht lange nachdenken, sondern einfach helfen!