Und dann begann die Nacht
Eine Tour, drei Teamplayer, zwei Städte, viele Fragen, Emotionen und das, was die Nacht verbirgt.
Es sollte eine kurze Tour werden, da der Tag bereits lang und körperlich anstrengend war. Also machten sich Martina, Olli und ich auf den Weg, ohne Termine zu vereinbaren, Menschen im Voraus anzurufen oder Treffpunkte zu vereinbaren. Wir brachten auch nichts mit, was die Menschen von uns erwarten könnten, wie sie es vielleicht bei uns bestellen würden. Wir wollen und werden diese Menschen nicht von uns abhängig machen, wie wir bereits auch in unserem Beitrag vom 30. Mai deutlich gemacht haben.
Zuerst fuhren wir nach Hagen, wo Olli uns einen Ort zeigen wollte, den er und Tanja am Donnerstag entdeckt hatten, den man jedoch nicht einfach von der Straße aus finden würde. Nachdem wir das erledigt hatten, fuhren wir durch die Stadt und stellten fest, dass wir viel zu früh dran waren. Es waren zu viele Menschen unterwegs, und es war schwierig zu unterscheiden, wer wirklich Hilfe brauchte und wer nicht. Also entschieden wir uns, zu einem uns bekannten Herrn zu fahren, der sich immer über Kartoffelpüree freute und gerne einen Kaffee mitnahm. Auch sein Versteck war auch von der Straße aus nicht zu finden.
Dann machten wir uns auf den Weg nach Wuppertal und wählten die Autobahn, obwohl ich sie normalerweise ungern benutze, da man dort sehr selten obdachlose Menschen antrifft. Ich fahre lieber durch die Städte, schaue in Haus- und Geschäftseingänge, ob dort Menschen liegen, die wir ansprechen können, um zum Beispiel nach einem Kaffee zu fragen. Ein Kaffee ist immer ein guter erster Schritt, um ins Gespräch zu kommen, um das Eis zu brechen.
Irgendwann kamen wir dann in der großen Stadt mit der Schwebebahn an. Wir fuhren direkt durch die Innenstadt, vorbei an vielen Menschen, die sich langsam auf den Weg nach Hause zu machen schienen. Mit der Zeit wurde es ruhiger und übersichtlicher, was für uns gut war, denn kurz darauf machten wir schon unsere ersten Entdeckungen. Wir konnten den Menschen etwas Warmes zu trinken und zu essen anbieten und waren auch immer offen und ehrlich in unseren Gesprächen. Besonders wichtig war es, den Menschen zuzuhören und nachzufragen, wie es ihnen geht.
Nachdem wir einigen Menschen in der Innenstadt Gutes tun konnten, beschlossen wir, eine kurze Pause einzulegen, wieder mitten in der Stadt. Wir ließen kurz die Seele baumeln und beobachteten Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Dann machten wir uns erneut auf den Weg in die Innenstadt, aus der wir eigentlich gekommen waren. An diesem Punkt erschien uns die Stadt wie verwandelt, sie war plötzlich eher leer. Wir sahen einen Mann auf einer Bank sitzen, der uns immer wieder zögernd anschaute. Nachdem wir ihn angesprochen hatten, kam er zu uns ans Fahrzeug, um dort erst einmal einen Kaffee zu trinken.
Kurz darauf kamen plötzlich noch mehr Menschen auf uns zu, so dass ich den Wagen umstellen musste, da er dort wo er stand, sehr ungünstig stand.
Und dann begann die Nacht ihre Geschichten zu erzählen, ein weiterer Abend voller Emotionen und Erzählungen von den Menschen, die auf der Straße leben. Ein Mann erzählte uns von dem Verlust seiner Frau vor einem Jahr. Mit traurigen Augen schaute er Olli an und erklärte, dass er immer noch nicht darüber hinwegkomme. Er finde einfach keinen Halt und rutsche immer wieder ab, wie ein rutschiger Berg, den er erklimmen müsse. Kurz vor dem Gipfel rutsche er jedes Mal wieder hinunter und fühlte sich dann genauso wie am ersten Tag, als er sie verloren hatte. Dann schaute er mich an und entschuldigte sich fast schon dafür, dass er ein Bier bei sich trug. Er müsse etwas gegen die Kälte tun, und ein Bier spende ihm für einen Moment Wärme. Er trinke nicht immer Bier, aber um der Kälte zu entkommen, müsse er eben manchmal dazu greifen.
Ich antwortete, dass Sorgen an der Oberfläche schwimmen und Alkohol auch kein Freund sei. Früher oder später würde er zu seinem Feind werden. Alkohol schütze auch nicht wirklich vor der Kälte. Wenn er jedoch das Gefühl habe, trinken zu müssen, solle er es tun, sich keine Gedanken machen und sich auch nicht dafür entschuldigen. Das Einzige, was er unbedingt tun solle, sei sich bei der Diakonie zu melden, für einen Neustart und professionelle Hilfe. Olli hatte ihm bereits eine Karte gegeben. Dort seien die richtigen Ansprechpartner.
Danach unterhielt er sich noch eine Weile mit Olli, und jedes Mal, wenn ich zu ihm hinüberschaute, sah ich seine traurigen Augen, die suchend durch die Gegend wanderten, auf der Suche nach einem Weg, um diesen Eisberg zu erklimmen.
Meine eigentliche Aufgabe an diesem Abend war es, ein Auge auf die beiden zu haben. Ich ging um sie und das Auto herum und beobachtete die Umgebung, denn die Nacht verbirgt nicht nur die Dunkelheit, sondern auch Menschen, die Unruhe stiften oder denken, sie wären Arnold Schwarzenegger. Es waren keine obdachlosen Menschen, sondern „normale“ Menschen, die auch etwas zu viel konsumiert hatten, aber aus Partygründen und nicht, weil sie es im Leben schwer hatten.
In der Zwischenzeit sprach Martina mit einer älteren Dame, mit der ich bereits vor ein paar Tagen gesprochen hatte. Die Dame erzählte Martina, dass sie seit über 10 Jahren darauf warte, von ihrem Sohn abgeholt zu werden, der sie dann mit dem Zug nach Hause nehmen würde. Sie wünschte sich so sehr, in den Zug zu steigen, aber alleine traute sie sich nicht. Sie bräuchte ihren Sohn, um ihr Sicherheit zu geben, dass alles in Ordnung wäre.
Und dann erzählte sie Martina dasselbe, was sie mir schon wenige Tage zuvor erzählt hatte. Ich hatte gehofft, dass sie es mir einfach so erzählt hatte, aber ich merkte, dass sie es ernst meinte, als sie sagte, dass sie langsam den Glauben verliere, dass einer ihrer Söhne kommen würde, um sie abzuholen. Sie habe die Hoffnung aufgegeben, mit dem Zug nach Hause zu fahren. Sie sei mittlerweile so alt, dass sie finde, dass ihre Zeit gekommen sei, einfach zu gehen. Ihre Kraft würde schwinden, sie werde immer schwächer. Sie könne es nicht mehr ertragen, jeden Tag bestohlen zu werden, jeden Tag auf der Flucht zu sein, vor sich selbst und vor dieser ständigen andauernden Angst, dass niemand ihrer Söhne sie an die Hand nehmen würde und sie nach Hause begleiten würde und es ihr nun klar wurde, dass es Zeit wäre, ihre Geschichte als beendet anzusehen. Sie war bereits darauf vorbereitet, wenn es endlich soweit wäre.
Das hatte stark auf Martina gewirkt, als wir auf dem Rückweg nach Hause waren. Solche Erlebnisse gehen nicht spurlos an einem vorbei. Man nimmt sie mit ins Bett, sie begleiten einen tagelang und wochenlang. Sie nisten sich in einem ein und verändern einen. Sie verändern die eigene kleine Welt und wecken Emotionen, von denen man nicht gedacht hätte, dass man sie so tief empfinden kann. Es macht einen einfach nur traurig und eine gewisse Zeit sehr nachdenklich.
Kurz bevor wir fuhren und bis zu diesem Zeitpunkt vielen Menschen mit Kaffee und Suppe helfen konnten, unzählige Rucksäcke verteilten und auch ein Zelt, Hygienebeutel und endlose Süßigkeiten, sprach mich ein weiterer Herr an.
„Habt ihr zufällig noch einen Rucksack für mich?“, fragte er.
„Nein“, antwortete ich. „Der letzte wurde gerade ausgegeben.“
In diesem Moment brach für ihn irgendwie eine Welt zusammen. „Das hätte ich mir denken können“, sagte er. „Immer komme ich zu spät, immer bin ich zu spät dran.“
„Warte mal“, sagte ich. „Ich schaue nochmal nach.“ Ich fand tatsächlich noch einen Rucksack auf dem Rücksitz und gab ihn ihm. Ohne auch nur eine Sekunde reagieren zu können, wurde ich von einem erwachsenen Mann umarmt, und Tränen schossen ihm in die Augen.
„Du glaubst gar nicht, was für eine Freude du mir damit bereitet hast. Nicht nur, dass ich nicht weiß, wie ich dir für diesen Rucksack danken soll, sondern jetzt bin ich auch sicher, vielleicht doch nicht immer zu spät zu kommen. Vielleicht habe ich doch mal in meinem Leben einen Hauch Glück.“
Selbst nachdem er sich schon von uns entfernt hatte, kam er nochmal zurück, und wieder war ich nicht schnell genug. Der Mann umarmte mich erneut. „Ich weiß“, sagte er. „Es ist nur ein Rucksack, aber wenn du wüsstest, was du damit in mir ausgelöst hast, dann würdest du meine Freude verstehen.“
Vielleicht würde ich das verstehen, vielleicht tue ich es auch schon. Vielleicht ist es aber auch einfach in Ordnung, dass es für uns selbstverständlich ist, einfach nur zu helfen.
Kurz darauf fuhren wir nochmal nach Hagen, und auch dort konnten wir um 03:00 Uhr morgens noch einigen Menschen etwas Gutes tun, bevor jeder mit seiner eigenen kleinen Geschichte, die wir heute alle mit nach Hause nehmen durften, in Richtung Bett fuhr.
Martina hatte die Geschichte der alten Dame, die sich ihr anvertraut hatte und ihr noch mehr Emotionen schenkte, als sie bereits unendlich davon besitzt.
Olli hatte die Geschichte mit dem Herrn, der den Verlust seiner Frau nicht verarbeiten konnte und sich Olli anvertraute. Olli schenkte ihm das gute Gefühl, dass er vielleicht mit viel Feingefühl diesen Herrn dazu bringen konnte, mit einer Karte der Diakonie einen neuen Weg einzuschlagen und seinen Berg mit professioneller Hilfe zu erklimmen.
Und für mich, nach so langer Zeit in der Obdachlosenhilfe, zeigte es mir wieder, dass die Teamspieler, mit denen ich zusammenarbeiten darf, herzlich, freundlich und liebevoll sind. Es macht mich immer wieder stolz, einen solchen Verein ins Leben gerufen zu haben und ihn jeden Tag leben zu dürfen.