Wir können die Welt nicht retten

Karin schreibt…

Was ist, wenn sie einfach verschwinden, sterben?

Diese Frage habe ich mir ja schon oft gestellt und werde es auch weiterhin immer wieder tun. Neulich rief mich eine Freundin an, die zufällig in Hagen mitbekommen hat, dass ein Rettungswagen in der Stadt stand und die Sanitäter versuchten, einen vermutlich obdachlosen Herrn in den Rettungswagen zu transportieren. Er hat wie wild um sich geschlagen, wollte partout nicht, dass sie ihn anfassen. Sie weiß, wie wichtig mir diese Menschen sind und hat mich sofort informiert. Ich war total aufgeregt, habe nach der Kleidung gefragt, hatte sofort einen der obdachlosen Menschen im Kopf, die mir besonders am Herzen liegen und um die ich mir große Sorgen mache. Ich hatte Tränen in den Augen – zunächst aus Angst, er könnte es sein, dann aus Erleichterung, dass er es vermutlich nicht war. Jaja – die emotionale Heulsuse… ich bin nun mal so und ich werde mich bestimmt nicht mehr ändern, dafür bin ich zu alt. – Aber wer war es dann? Ich weiß es bis heute nicht.

2 Tage später. Ich bin mit 2 Schnüffelmitgliedern unterwegs, Andreas ist bereits einige Male mitgefahren, Lukas ist neu. Die „Einarbeitung“ fängt bereits am Lager und mit dem Packen des Kangoos an. Ich erkläre, auf was wir besonders achten sollen, wovon wir eher mehr, eher weniger einpacken, weil ich mittlerweile weiß, was besonders gut ankommt und was nicht. Aber auch das kann sich plötzlich ändern – wir wissen ja vorher nie, wen wir alles treffen, sind es alte Bekannte oder sind es neue? Also wird so viel eingepackt, wie in den Kangoo passt.

Ich erzähle und erkläre auf der Fahrt in die Nacht, was ihn – den „Neuen“ Lukas – erwartet, erwarten kann und wie wir unseren „Job“ machen. Job ist eher eine blöde Bezeichnung – hört sich nach Arbeit an. Nee – wir arbeiten nicht, wir tun etwas, was uns am Herzen liegt, und das ohne Eigennutz (wer schlägt sich schon freiwillig die Nächte um die Ohren… na ja… WIR! Und das auch noch aus Überzeugung).

Nicht überall treffen wir sie an, die wir suchen, machen Umwege, erkunden neues Terrain. Es geht Richtung Stadt, wir treffen auf eine gute Bekannte – und das ist wieder so ein Gespräch, das unendlich traurig macht. Sie hat einen Job, eine Wohnung. Hat drei Mal dem Leben auf der Straße entkommen können – aber es zieht sie immer noch dahin. Sie ist alkoholisiert, erzählt, einen Teil ihres Lebens kenne ich bereits – jetzt kommt noch viel Neues hinzu. Es sprudelt nur so aus ihr heraus. Egal. Wir haben Zeit. So viel Wut, so viel Trauer, so viel Verzweiflung. Ist klar – die Heulsuse meldet sich wieder und ich kämpfe damit, einfach mal mitzuweinen. Sie überlegt, wieder zurück auf die Straße zu gehen. Sich nicht um andere kümmern oder sorgen zu müssen. Ich rede mich um Kopf und Kragen – aber erreiche sie nur bedingt. Zu groß sind Verzweiflung, Wut und Alkoholpegel. Schwer zu akzeptieren – aber eine Wahl habe ich nicht.

Wir reden lange – dann taucht ein obdachloser Herr auf, den ich gut kenne und der begeistert erzählt, dass er einen Entzug gemacht. Ich erinnere mich an die letzte Begegnung, die wirklich furchtbar war und ich habe oft auf unseren Touren gehofft, dass ich ihn in besserer Verfassung antreffe – ist heute passiert! Aber ich habe bei UNSICHTBAR e. V. eins gelernt: Die Euphorie, dass jemand einen Entzug gemacht hat, sich beim Jobcenter etc. gemeldet hat, heißt nichts. Zu oft ist es ein einmaliges Aufflackern von Selbständigkeit – und dann treffen wir sie wieder in einem furchtbaren Zustand an. Ich weiß das – aber jedes Mal habe ich die Hoffnung, dass dieser Mensch es nun schafft.

Es ist Jahrzehnte her, da habe ich über eine Freundin einen junger Mann kennengelernt, sehr sensibel, sehr lieb – zu sensibel und zu lieb für seinen Vater. Der hat ihn mit Schlägen zu einem „richtigen Mann“ machen wollen. Ergebnis: Alkoholiker, Leben auf der Straße. Er sagte, dass man erst mal ganz unten ankommen muss, um zu begreifen, dass man was ändern muss. Oder aber nicht. Und dann stirbt. Einfach so. Das hat mir eine sehr liebe Freunden, die auch auf der Straße gelebt hat, bestätigt.

Man kann sie nicht einfach so irgendwo hin verfrachten. Das halten sie nicht aus, sie müssen raus. Das ist auch ein Grund, warum viele nicht in Obdachlosenunterkünften schlafen. Sie halten geschlossene Räume nicht aus. Ich weiß – wir können uns das nicht vorstellen, unser Heim bedeutet Sicherheit. Für diese Menschen bedeuten Räume Enge, die sie nicht ertragen. Das ist bei dem Sohn der Dame, die wir zu Beginn unserer Tour angetroffen haben, u.a. auch der Fall. Er will frei sein. Von niemandem abhängig, niemandem Rechenschaft schuldig sein.

Wir werden mit Vielem konfrontiert, was wir nicht verstehen und nachvollziehen können – aber ist das unsere Aufgabe? Nö. Wir müssen einfach nur akzeptieren, dass es diese Menschen gibt, für die wir da sind. Ich finde, das reicht als Argument.

Wir erreichen unseren letzten Treffpunkt. Schnüffelmitglied Andreas ist bei der Bahnhofsmission – kennt dadurch natürlich einige unserer bekannten Obdachlosen. Beim letzten Treffen hatte er einen Termin mit einem unserer Bekannten gemacht, den der jedoch nicht wahrgenommen hat. Er ist einer, der mir sehr wichtig ist. Als er am Kangoo auftaucht, moppere ich sofort los, dass er diesen Termin nicht wahrgenommen hat. Andreas: „Wir spielen good Cop, bad Cop!“ Ich: „Ich will nicht die Böse sein!“ – A. (der obdachlose Herr): „NEIN!!! Das bist du auch nicht!“ – Und das ist genau das, was unsere Tätigkeit auch ausmacht: Der wirklich liebevolle, lockere, manchmal alberne Umgang miteinander, der uns allen gut tut.

Tja – und dann kam das unausweichlich Traurige… der obdachlose Herr, der von dem Rettungswagen abgeholt wurde, ist verstorben. Wir haben nicht herausbekommen, um wen es sich handelt. Unsere Bekannten konnten keine näheren Angaben machen. Was mich wieder fasziniert hat: Das Vertrauen, das Wissen, dass es für uns wichtig ist, um wen es sich handelt und dass sie es uns mitgeteilt hätten, wenn sie es gewusst hätten. Weil sie uns wichtig sind und weil sie genau das wissen.

Der obdachlose Herr, um den ich mir so viele Sorgen mache und von dem ich befürchtete, dass er der Obdachlose sei, der verstorben ist, war es zum Glück nicht. Wir haben ihn heute angetroffen. Nicht ansprechbar.

Ich kann sie nicht alle retten. Ich nicht – und wir alle von UNSICHTBAR e. V. auch nicht. Wir suchen die Unsichtbaren, und wenn wir sie finden, helfen wir. Und wir helfen denen, die auf uns warten. Immer und immer wieder: Eine Herzensangelegenheit.
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EHRENAMT BEI UNSICHTBAR e. V.
Das Ehrenamt bei UNSICHTBAR e. V. besteht nicht ausschließlich aus der Arbeit auf der Straße. Bring dich zum Beispiel in der Fahrzeugpflege mit ein, sortiere, packe und waschen und reinige regelmäßig unsere Fahrzeuge, denn auch das ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe.
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