„Ihr seid Tierretter für Menschen !“

„Ihr seid Tierretter für Menschen !“ Diese Beschreibung von „Unsichtbar“ hörten wir gestern, als Olaf, Kiki und Ich (Monika) auf unserer Tour durch Wuppertal und Hagen waren. Die beiden Straßenmenschen mit einem Zeltdach über dem Kopf freuten sich uns zu sehen, hatten Hunger und Durst und wir konnten sie versorgen. Über den Spruch mussten wir gemeinsam lachen. Da wussten wir noch nicht, dass er am Ende unserer Tour noch mal eine besondere Bedeutung bekommen würde.
 
Ein Zelt schützt in gewissem Maße vor Wind, Regen und Kälte, aber es ist eben nur aus Stoff. So erzählte uns ein weiterer obdachloser Mensch von einem „Überfall“ auf sein Zelt. Er war tagsüber unterwegs gewesen und fand das Zelt durchwühlt und ziemlich leergeräumt vor. Seine große und berechtigte Sorge war jedoch, dass jemand nachts von außen das Zelt aufschlitzen und ihn dabei verletzen könnte. Er ist gelernter Mechaniker für LKWs und plant nun seine Unterkunft mit einem Metallring an der Innenwand zu verstärken. Not macht erfinderisch und nachdem wir ihn mit einem Getränk versorgt hatten, wünschten wir ihm gutes Gelingen für sein Projekt.
 
Auf der Straße werden wir immer wieder mit Alkohol- und Drogensucht konfrontiert. Das, was in unserer Gesellschaft sonst hinter verschlossen Türen geschieht, ist hier öffentlich für jeden präsent. Viele nehmen inzwischen an einem Methadonprogramm teil und erzählen uns begeistert von ihren Erfolgen. Das Programm ist u.a. Voraussetzung für die Bewerbung um ein Zimmer/eine Wohnung in einer städtischen Unterkunft. Zwei Straßenmenschen, die wir an diesem Abend in Wuppertal besuchten, blicken entsprechend hoffnungsvoll in die Zukunft und die Zeit, die sie endlich nicht mehr auf das Beschaffen von Drogen verwenden müssen, nutzen sie jetzt für anderes. So hat sich einer der beiden zu einer „Leseratte“ entwickelt. Als wir bei ihm ankamen sortierte er gerade einige Bücher, um die, die ihn nicht interessierten, in den Bücherschrank zurückzustellen. Wir besuchen ihn schon sehr lange und immer wieder führen wir interessante Gespräche und können ihn mit etwas „Saurem“ versorgen. Er liebt diese Süßigkeiten. Gestern machte er sich Gedanken über seinen Lesedrang. Er spüre eine starke innerliche Unruhe, wenn er nichts zu lesen habe. Das sei schon fast wie eine Sucht. Das war schön zu hören. „Lesesucht ist ja verglichen mit anderen Süchten ein Geschenk“, kommentierten wir dann auch seine Sorgen. Lachend musste er uns zustimmen.
 
Ein anderer Straßenmensch, ein 2 m Mann, der wohl mal über 110 kg gewogen hat und nun auf 75 kg abgemagert ist, erzählte auch glücklich von seinen Erfolgen beim Entzug mit Methadon. Sein Hobby ist das Fotografieren von Luxuskarossen, die er beim Gang durch die Stadt gelegentlich findet. Er zeigte uns Fotos von einem Dodge und einem Hummer. Sein Platz ist in unmittelbarer Nähe eines Clubs, in dem manchmal bis 5 h morgens Betrieb ist. Viele Besucher gehen nachts dann an ihm vorbei. Natürlich müsse er sich oft dumme Sprüche anhören, aber die meisten seien freundlich und z. T. sogar hilfsbereit. Das beruhigt.
 
Wir fuhren dann noch zu einem alten Bekannten, der immer mit einem Ohr am Radio hängt, wenn wir kommen. Er ist furchtbar abgemagert und vernachlässigt sich ungemein. Auf seine gute Laune ist jedoch immer Verlass. Er freute sich sehr über eine warme Mahlzeit und einen Kaffee. Die offene Wunde an seinem Kopf hatte er allerdings noch nicht bemerkt und Olaf versprach ihm einen Taschenspiegel für unseren nächsten Besuch. Wir versorgten ihn mit Pflaster und brachen dann auf zu einem Park, in dem Kiki einen obdachlosen Herrn vermutete, für den das Team in der Woche zuvor wegen seiner offenen und stark nässenden Beine das THW gerufen hatte. Er war erst gestern wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden und trug stolz die Schuhe, die ihm Holger und sein Team besorgt hatte. Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, beruhigte er uns und bedankte uns noch einmal sehr für unseren Einsatz. „Nun weiss ich auch endlich, wer „Unsichtbar“ ist“, sagte er beim Abschied. Vorher gaben wir ihm noch ein Tastenhandy für Notfälle, weil sein altes gestohlen worden war.
 
Nach Mitternacht fuhren wir dann noch nach Hagen. Dort, an einem Bahnhof, saß eine älterer Herr mit Koffer und einem umgehängten Instrumentenkasten auf einer Bank. Er fror erbärmlich und wir boten ihm etwas Warmes an. Er sprach nur ein paar Brocken deutsch und was wir verstehen konnten waren immer wieder die beiden Wörter „helfen“ und „schlafen“. Und in diesem Moment stießen wir schmerzlich an unsere Grenzen. Klar, wir können mit vielem helfen, aber zu dieser Zeit nicht mit einem Schlafplatz im Warmen. Die Unterkünfte für obdachlose Menschen hatten schon geschlossen und das Wachpersonal darf die obdachlosen Menschen nicht im Bahnhof übernachten lassen – nur bei Minusgraden. Den älteren Mann zog immer wieder der Instrumentenkasten, der ihm an einem Gurt um den Hals hing, von der Bank. Wir schoben ihn am Kasten in die Mitte der Bank und gaben ihm dann einen Schlafsack als Schutz gegen die Kälte. Immer wieder bat er um eine Unterkunft an einem warmen Ort. Wir gingen noch mal alle Listen durch und klingelten auch Holger aus dem Bett, dem aber auch keine Lösung einfiel.
 
Als wir nach langem Erklären und Vorschlägen, wie man unter dem Schlafsack halbwegs warm liegen könne, dann aufbrachen, verwendeten wir die fatale Floskel „Gute Nacht“. In diesem Moment fing der alte Mann so herzzerreißend an zu Weinen und zu Schluchzen, dass wir uns unserer Ohnmacht nur allzu bewusst wurden.
 
Da erinnerte ich mich an den Spruch von den „Tierrettern“ für Menschen. Nein, leider sind wir das nicht! Für Tiere hätte sich mit Sicherheit eine Unterkunft gefunden.
 
So verließen wir den Platz und stellten im Vorbeigehen einer alten Bekannten, die schon fest schlief, ganz leise eine Flasche Wasser für den Morgen an ihren Platz. Das war dann auch das Ende unserer bewegenden Tour in den Mai.